Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ökumenischen Wirkungskreis ständig vertiefen und ausweiten. Zu den ewig selben Problemen Roms habe ich ja in aller Ausführlichkeit und Wissenschaftlichkeit gesagt, was ich zu sagen hatte; sie langweilen mich, weil eine praktische Realisierung der dringend notwendigen Reformen von Rom mit allen Mitteln blockiert und die Ökumene bewusst verhindert wird. Intellektuell herausfordernd, geistig faszinierend und zukunftsträchtig sind für mich ganz andere, neue Probleme, die direkt anzugehen ich jetzt, gut vorbereitet, die Zeit und Kraft habe. Der neue Horizont nicht nur von Weltökonomie, sondern auch von Weltpolitik fesselt mich mehr und mehr.
Der neue welthistorische Horizont
Ich spreche bewusst nicht nur von einem weltpolitischen, sondern von einem welthistorischen Horizont. Von Herkunft und Erziehung bin ich gewohnt, die historische Dimension in allen Bereichen nicht, wie ich es besonders in Amerika erlebte, zu vernachlässigen, sondern zu reflektieren und so die Einsicht in die Vergangenheit für die Bewältigung der Gegenwart fruchtbar zu machen. In diesem Zusammenhang faszinieren mich zwei Staatsmänner, mit denen ich später auch persönlich zu tun bekomme und die in den 1970er- und 80er-Jahren für zwei verschiedene weltpolitische Konzepte stehen. Da ist der »Realpolitiker« HENRY KISSINGER , von 1969 bis 1977 Sicherheitsberater und Außenminister unter den US-Präsidenten Nixon und Ford und Friedensnobelpreisträger für das Friedensabkommen in Vietnam 1973. Und als Gegenpol der »Idealist« JIMMY CARTER , Präsident der Vereinigten Staaten von 1977 bis 1981, 2002 für seine internationale Vermittlungstätigkeit mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Ich werde auf die beiden Persönlichkeiten und Konzeptionen zurückkommen.
In den 1980er-Jahren war es nicht mehr zu übersehen, dass die Welt in eine neue Epoche, eine neue Gesamtkonstellation, ein neues »Paradigma«, wie ich zu sagen pflege, eingetreten ist. Und zwar nicht erst mit dem Jahr 1968, dem »Jahr der Entscheidungen« (ich habe es im zweiten Band meiner Erinnerungen ausführlich beschrieben und analysiert), sondern, mit mehr historischer Tiefenschärfe gesehen, schon ab 1914: der Erste Weltkrieg als das Ende der bisher so optimistischen europäischen Moderne.
Bekanntlich hatte die Menschheit in der europäischen Neuzeit eine Fülle verschiedener Erfahrungen gemacht, die unser Verständnis von Mensch, Gesellschaft, Kosmos und auch Gott von Grund auf verändert haben. Im Zeichen der Leitideen Vernunft, Fortschritt und Nation war es zu vier folgenreichen revolutionären Entwicklungen gekommen: im 17./18. Jahrhundert zuerst die naturwissenschaftliche und philosophische Revolution, dann die Kulturrevolution der Aufklärung, die politisch kulminierte in der Amerikanischen und Französischen Revolution, und schließlich im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution. Alles in allem hatte sich ein aufgeklärt-modernes Paradigma durchgesetzt, das sich grundlegend unterschied sowohl vom mittelalterlichen römisch-katholischen als auch vom darauffolgenden reformatorisch-protestantischen Paradigma des 16./17. Jahrhunderts.
Es war für mich seit Langem klar, dass die Errungenschaften der Moderne auch in der neuen nach-modernen Weltepoche nach dem Zweiten Weltkrieg nicht rückgängig gemacht werden können und dürfen. Auch Theologie, Kirche, Religion haben – bei aller berechtigten Kritik an Rationalismus, Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus – die modernen Errungenschaften zu akzeptieren: Dies gilt für die bleibenden Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft, Philosophie und der modernen Demokratie ebenso wie die der Human- und Sozialwissenschaften, und schließlich auch die der modernen Religionskritik, Bibelauslegung und Geschichtsforschung.
Doch andererseits lässt sich nicht übersehen, dass die Menschheit sich seit dem gesamtkulturellen Umbruch im Zusammenhang der beiden Weltkriege mitten im Übergang zu einer neuen Gesamtkonstellation befindet, die sich von der typisch modernen unterscheidet und die ich zunächst einmal das »postmoderne«, dann aber (um nicht mit der Ideologie des damals modischen »Postmodernismus« verwechselt zu werden) das »nach-moderne« Paradigma nenne. Zu Beginn der 1980er-Jahre kann ich dieses zeitgenössische Paradigma wie folgt knapp skizzieren:
– Verglichen mit 1918 und erst recht 1945 hat sich die weltpolitische Konstellation völlig verändert: Das eurozentrische Zeitalter des Kolonialismus und
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