Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Thema »Ökonomie und Gottesfrage« 7 . Ein ganzes Jahrzehnt vor der Globalisierungsdebatte habe ich dabei, ausgehend von der Situation der Wirtschaft, für die Anwendung ethischer Werte auch in der Wirtschaft geworben. Die buchstäblich »enorme«, weil alle bisherigen Normen übersteigende Aufgabe, »vor der die Menschheit heute und mit ihr wir alle stehen«, sei es, sage ich, »eine gerechtere, friedlichere, freiere, kurz: humanere Welt heraufzuführen«. Dabei sei davon auszugehen, dass schon hinsichtlich der Marktwirtschaft heutzutage »Glaubenszweifel weit verbreitet« seien. Und dies nicht zu Unrecht, denn wenn das ganze System überhaupt funktionieren solle, scheine der Glaubenssatz vom Markt dringend ergänzungsbedürftig zu sein durch einen zweiten, einschränkenden: »Wer nur an den Markt glaubt, ist abergläubisch!« Der Markt sei um des Menschen willen da, nicht umgekehrt. Und eines sei er gewiss nicht: unfehlbar! Es sei ein gewaltiger Irrtum zu meinen, die Ursachen für die Mängel der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung seien nur technischer Art: »Wer die Weltprobleme allein von einem wirtschaftlichen Standpunkt betrachtet, der wird die heutige Krise nicht überwinden helfen. Er verschärft sie! Geht es doch nicht nur um eine ökonomisch-technologische, sondern zugleich um eine ideologische, besser: geistige Krise.« Bei der Bewältigung dieser Krise könne man von der »ethisch-religiösen Dimension« nicht absehen. Dies habe sich nicht nur in Iran und in Polen, sondern auch in westlichen Industrieländern gezeigt, wo man allzu leicht meinte, die Religion durch Wirtschaft und Wissenschaft ersetzen zu können.
Ohne moralisierende Schwärmerei oder ideologische Verkrampftheit will ich so den Festgästen diese theologisch-politischen Zusammenhänge mittels fünf praktikablen Stichworten verdeutlichen: Menschlichkeit, Brüderlichkeit, Wahrhaftigkeit, Zukunftsorientiertheit und Sinnhaftigkeit. Wenn es einen Gott gibt, so meine These, lassen sich diese Maximen unwiderleglich begründen, dann lässt sich etwa als »kategorischer Imperativ« vertreten, dass nicht nur die Politiker, sondern auch die Industrie- und Gewerkschaftsführer dem Volk nicht heuchlerische Versprechungen machen dürfen.
Es ist für mich im Kampf um die öffentliche Meinung wichtig, dass diese Rede, in der die katholische Hierarchie durch sichtbare Abwesenheit glänzt, mit großem Beifall aufgenommen wird und ein weites positives Presseecho hat. Denn von Seiten der Amtskirche tut man weiterhin alles, um mir den Weg zu kirchlichen Institutionen zu versperren. Katholische Akademien dürfen mich nicht mehr einladen. Katholische Kirchengemeinden machen sich unbeliebt, wenn sie mich zu einem Vortrag bitten. Und doch ist die katholische Stadtpfarrkirche von Ulm an der Donau übervoll, als ich dort auf Einladung eines mutigen Pfarrers und Pfarrgemeinderates am 1. Adventssonntag 1980 die Eucharistie feiere und über den Anfang des Markusevangeliums predige. Aber sonst: lieber die Gefahr leerer Kirchen als die Gefahr kirchlicher »Irrlehren«!?
Und ein zweites für diese Zeit typisches Ereignis: Im selben Dezember 1980 laden mich das katholische und evangelische Bildungswerk der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart zu einem Vortrag im großen »Hospitalhof« ein. Doch der katholische Veranstalter muss seine Einladung rückgängig machen, auf Weisung jenes Bischofs Georg Moser von Rottenburg, der sich ständig mit dem lauten oder stillen Vorwurf konfrontiert sieht, warum er sich von Rom zum Entzug meiner kirchlichen Lehrbefugnis drängen ließ, und der sich gerne vom Täter zum Opfer macht. Doch ist auch dieser Saal in Stuttgart trotz allem übervoll, und ich werde oft durch Beifall unterbrochen. 8
Unterdessen nimmt das Wintersemester 1980/81 in Tübingen seinen Lauf. Trotz der Propaganda von Seiten der Amtskirche ist mein Seminar gut besucht. Anhand von bekannten katholischen und evangelischen Autoren behandeln wir in ökumenischer Gemeinsamkeit die Bedeutung des Neuen Testaments für die heutige systematische Theologie. Ich selber aber beschäftige mich innerlich schon längst nicht mehr in erster Linie mit Kirchenfragen.
Konfrontiert mit der wieder ständig wachsenden römischen Verengung bin ich froh, dass ich mich an der Problematik der römisch-katholischen Kirche und ihres Systems mit einem angeblich unfehlbaren Papst nicht festgebissen habe. Vielmehr kann ich jetzt, auf die neue Phase gut vorbereitet, meinen
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