Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Erläuterung.
Sippenhaft
Die getroffenen Beschlüsse kommen den berechtigten Interessen meiner Schüler und meiner im Tübinger Kompromiss ausgearbeiteten Rechtsstellung entgegen. Ein Modus Vivendi ist immerhin gefunden, und in der Praxis bemüht sich dann doch jeder Prüfer unter meiner wachsamen »Aufsicht« um faire Prüfung und Notengebung. Allerdings sind damit die Probleme für meine Schüler noch keineswegs beendet.
»Sippenhaft«, eine Haftung der Angehörigen für Delikte des Täters, die diesem zur Last gelegt werden: im mittelalterlichen Recht war sie gestattet, noch im Nationalsozialismus und in Militärdiktaturen wurde sie geübt, aber in jedem modernen Rechtsstaat ist sie unzulässig. Doch in der Kirche wird eine Art Sippenhaft verdeckt noch immer praktiziert, wenn es darum geht, unbequeme junge Wissenschaftler von Lehrstühlen fernzuhalten. Dies geschieht auch mit meinen Schülern, wenn sie sich nicht von mir distanzieren.
Es lohnt sich kaum, von denen zu reden, die sich in einem Artikel von mir abgesetzt oder sich im Geheimen gegen mich erklärt haben, um akademisch Karriere zu machen. Wohl aber will ich berichten vom Schicksal meiner drei engsten Mitarbeiter in unserem Institut für Ökumenische Forschung. Aus zwei Gründen: Zum einen wird hier manifest, wie das römische System gegen unbeugsame nonkonformistische Theologen ganz konkret funktioniert (vgl. Bd. 2, Kap. VII: Ein Denunziations- und Überwachungssystem). Diese weltweit, doch meist im Geheimen geübten Inquisitionspraktiken werden zumeist nicht bekannt; die wenigsten Theologen haben die Möglichkeit, sich mit Erfolg zu wehren und gar die Öffentlichkeit für sich zu mobilisieren. In Deutschland ist für die Gewährung der kirchlichen Lehrbefugnis an staatlichen theologischen Fakultäten nach dem von der Hitler-Regierung 1933 mit dem Heiligen Stuhl abgeschlossenen »Reichskonkordat« eindeutig der Ortsbischof (»ordinarius loci«) zuständig. Doch es gelang der römischen Kurie nach dem Zweiten Weltkrieg durch einseitige Verfügungen und gefällige »Interpretationen«, ihren Einfluss auf Lehrstuhlbesetzungen in Deutschland bei gefügigen staatlichen Organen immer mehr auszuweiten, und dies in doppelter Hinsicht: Einerseits muss jetzt jeder deutsche Bischof vor Erteilung eines »nihil obstat« bei der römischen Studienkongregation anfragen, die ihrerseits diese Anfrage an die Glaubenskongregation weitergibt. Seither wird faktisch im Palazzo del Sant’Uffizio über die deutschen katholischen Lehrstühle entschieden! Andererseits werden die Barrieren für eine Universitätskarriere immer mehr nach vorn verschoben: Nicht nur für Professoren, sondern auch für Privatdozenten wird die Zustimmung des Bischöflichen Ordinariats beziehungsweise Roms verlangt, und bei Nicht-Priestern werden die Normen noch willkürlich verschärft.
Zum anderen möchte ich meinen drei Kollegen und Freunden, die in schwierigster Zeit Standfestigkeit bewiesen und mir durch all die Jahrzehnte ihre Treue bewahrt haben, öffentlich meine Dankbarkeit , die nach einem deutschen Sprichwort »dünn gesät« sei, zum Ausdruck bringen. Wie viel mussten doch alle drei meinetwegen – nein, um der gemeinsamen Sache willen – durchstehen, nicht zuletzt von Fakultätskollegen, aber auch in der kirchlichen Öffentlichkeit durch ihre Ächtung als »Küng-Schüler«. Da ließ sich ja nicht alles mit Humor und Spott über den »Schwefelgeruch der Ketzer« wegstecken. Ging es doch bei den drei hoch qualifizierten Nachwuchswissenschaftlern um ihre ganze berufliche Zukunft und das Schicksal ihrer Familien.
Theologenschicksale: Hermann Häring, Urs Baumann, Karl-Josef Kuschel
Mein Dank gilt zuerst Dr. HERMANN HÄRING : Nach einer Dissertation über die Ekklesiologie der Bultmann-Schule (1970) verfasst er eine Habilitationsschrift über die Problematik des Bösen (1978) und bittet daher am 2. April 1978 den zuständigen Bischof von Rottenburg, GEORG MOSER , um seine Zustimmung zur Eröffnung des Habilitationsverfahrens. Daraus entwickelt sich ein peinliches Verzögerungsmanöver, das volle 18 Monate andauert und erst am 9. Oktober 1979 seinen Abschluss findet. Zunächst erhält Häring, obwohl die Zeit drängt, vom Bischof überhaupt keine Antwort. Am 17. Mai 1978 antwortet er endlich – aber wie? Er brauche Zeit, um Härings Theologie genauer zu studieren, und bitte um eine Publikationsliste! Dann findet er angeblich zunächst keine Zeit zum Studium, das nun offenkundig
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