Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Ich bin mir bewusst: Dem Phänomen China darf man sich nicht allein von wissenschaftlich-technologischer und ökonomisch-politischer Seite annähern. China und seine Menschen sind auch von der kulturellen, und das heißt von der philosophischen, ethischen, religiösen Seite her ernst zu nehmen.
Erste China-Reise 1979
Meine erste China-Reise kann ich 1979 in einer Gruppe des Kennedy-Instituts für Bioethik (Washington) unternehmen; ich hatte den Vorschlag einer solchen Reise über Julia bei SARGENT SHRIVER-KENNEDY , dem Präsidentenschwager, ins Spiel gebracht (vgl. Bd. 2, Kap. X: China nach Mao). Aus dem von mir, Julia und Sargent geplanten Besuch von drei Personen wird eine ganze Delegation von rund 25 Mitgliedern.
Besonders gewinnbringend ist für mich die Präsentation von Professor LIU SHUHSIEN , der uns an der Chinese University of Hong Kong in seinem Vortrag über chinesische Philosophie Grundlegendes deutlich macht: Während die griechische Philosophie von kosmologischen Fragen nach dem Ursprung aller Dinge ausgeht, so die chinesische Philosophie von praktischen Fragen nach dem richtigen Lebensweg (»dao«). Der Mensch wird gesehen im Ganzen des Kosmos. Und während das römische Recht das Recht des Volkes schützen will, so die chinesischen Gesetze die Rechte des Herrschers, der sich als über dem Gesetz stehend betrachtet. Deshalb herrscht in der chinesischen Philosophie eine weitgehende Abneigung gegenüber Gesetzen und eine Betonung des Ethos. Liu Shuhsien wird später »eine konfuzianische Antwort« in dem von mir herausgegebenen Band »Ja zum Weltethos« (1995) schreiben.
Ich habe ausführlich darüber berichtet (vgl. Bd. 2, Kap. X), wie ich als erster westlicher Philosoph und Theologe 1979 in der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften ohne jegliche Zensur über Religion und die Gottesfrage hatte sprechen dürfen und mir durch meine selbstkritischen Thesen den Respekt der Chinesen erworben hatte. Das sollte für die Zukunft wichtig sein. Nur am Rande sei daran erinnert, dass mir noch im selben Jahr wegen meiner Unfehlbarkeitszweifel die römischen Autoritäten die kirchliche Lehrbefugnis entziehen. Auch habe ich im selben Kapitel berichtet, dass unsere Gruppe als erste ausländische Delegation Qufu, den Geburtsort des Konfuzius besuchen und sogar in der weitläufigen Residenz der Familie Kung hatte wohnen können. Diese beiden einzigartigen Erfahrungen werden für mein Verständnis von China sehr wichtig. Wer wird in der kommenden Periode die Referenzfigur sein: nach Mao vielleicht wieder Konfuzius?
Ein drittes religiöses Stromsystem
In den 1980er-Jahren hatte ich jene bereits mehrfach erwähnten öffentlichen Dialoge an der Universität Tübingen mit Fachleuten für Islam, Hinduismus und Buddhismus gehalten (vgl. H. Küng u. a., »Christentum und Weltreligionen. Hinführung zum Dialog mit Islam, Hinduismus, Buddhismus«, München 1984). Doch anschließend will ich unbedingt die bisher in Europa allzu wenig präsenten Religionen Chinas in den öffentlichen Dialog einbeziehen. Frühzeitig lade ich deshalb JULIA CHING für das Sommersemester 1987 nach Tübingen ein, mache vorher aber noch mit ihr und ihrem Mann, dem kenntnisreichen amerikanischen Religionswissenschaftler Professor WILLARD OXTOBY (1933 – 2003), eine weitere Studienreise quer durch China – von der Ostküste bis nach Chengdu und Guilin, und schließlich sogar nach Lhasa/Tibet. Von dieser und späteren Reisen blieben zahllose Bilder in meinem Gedächtnis haften, drei aber ganz besonders – die ersten beiden von meinen späteren Filmdrehreisen.
Das erste: Wir fahren in der südlichen Region Guangxi bei schönem Wetter mehrere Stunden durch die spektakuläre Flusslandschaft von Guilin . Im breiten Fluss Li spiegeln sich die steilen, grünen Karstkegel, die durch die Jahrhunderte so viele chinesische Maler und Dichter inspiriert haben. Der »Elefantenrüsselberg«, der »Wellenbrecherberg« und mitten in der Stadt der »Berg der außergewöhnlichen Schönheit«: zahlreiche Mythen verbinden sich mit ihm. Eine »typisch chinesische Landschaft«, sagen manche. Doch ist sie höchst verschieden von den riesigen Gebirgslandschaften, die man stundenlang überfliegt, wie auch von den fruchtbaren Tiefebenen und den Riesenmetropolen des Ostens.
Dann das zweite Bild: Wir sind in Sichuan , von wo die daoistische Religion als Religion der Unsterblichkeit ausgegangen ist, und sitzen oben auf dem Qingcheng Shan, dem
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