Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
größten Lehrers: Konfuzius.
China – eine geistige Großmacht
Vor dieser dunklen Folie der Entwicklung Chinas ist es nicht leicht, das aktuelle China in freundlichem Licht zu sehen. Freilich hatte ich schon auf meiner ersten Reise rund um die Welt Ende November 1964, wie im ersten Erinnerungsband berichtet, meinen Fuß zum ersten Mal auf chinesischen Boden gesetzt: In der reizvoll gelegenen modernen Hafenstadt Hongkong – damals noch britische Kronkolonie – bekomme ich einen ersten Eindruck vom brodelnden Leben und der ungeheuren wirtschaftlichen Dynamik der Chinesen. Doch mit dem dort besuchten chinesischen Tempel weiß ich geistig wenig anzufangen.
Manchmal habe ich mich gefragt, warum viele christliche Theologen oft emotionale Widerstände empfinden, sich mit anderen Religionen auseinanderzusetzen . Es können natürlich Glaubensmotive sein, etwa eine einseitige Konzentration auf exklusive Aussagen des Neuen Testaments oder Zwänge des eigenen dogmatischen Systems, in dem andere Religionen von vornherein keinen Platz finden. Aber manchmal hat es einen viel simpleren Grund: Sich mit anderen Religionen auseinanderzusetzen bedeutet Arbeit, viel Arbeit. Und die meisten Theologen dürften schon genug Arbeit damit haben, ihre Lieblingsautoren zu studieren und sich in ihrem eigenen theologischen System zurechtzufinden. Die Angst, die Welt der Religionen nicht bewältigen zu können, ist verständlich. Nur ich weiß, wie viel Arbeit es für mich persönlich brauchte, mich auch nur einigermaßen in der Welt des Judentums und des Islams zurechtzufinden; das ist in den vorausgehenden Kapiteln deutlich geworden. Aber es ist keine Frage, dass die weiter entfernten Religionen indischen und chinesischen Ursprungs uns Europäern noch erheblich mehr Aufwand an Zeit und geistiger Anstrengung, Studien und Reisen abfordern. Um das alles etwas deutlich zu machen, erzähle ich hier zuerst etwas von weiteren Etappen nach 1964, in denen ich gerade die Religionen Chinas langsam verstehen lernte.
1971, auf meiner zweiten Reise um die Welt, kommt es für mich in Australiens Hauptstadt Canberra zu der Begegnung mit der Chinesin JULIA CHING , die sich für mich als schicksalhaft erweisen sollte; im zweiten Erinnerungsband habe ich davon berichtet (Kap. V: Bei den Antipoden). Sie stammt aus einer alten chinesischen Familie und ist in Schanghai aufgewachsen. Ich bin von ihr beeindruckt: von ihrem wachen Geist, ihrem Wissen, ihrer Intelligenz, ihrer historischen Erfahrung. Was europäische Sinologen mühsam lernen müssen – die Kenntnisse des Mandarin, des Kantonesischen und des Schanghai-Chinesischen – war ihr schon in die Wiege gelegt. Während der Diskussionen im Haus des liebenswürdigen Religionswissenschaftlers TONY JOHNS mit Kollegen der National University of Australia in der Hauptstadt Canberra kann ich genau ihre chinesische Mimik, Gestik und Denkweise beobachten und bin fasziniert.
Durch Julia Ching lerne ich die chinesische Kultur schätzen; eine breite, überaus kunstvolle Seidenmalerei vom Ursprungsort ihrer Familie, Wuxi im Delta des Jangtsekiang, mir später bei einem gemeinsamen Besuch dort vom Maler gewidmet und signiert, erinnert mich bis heute in meiner Schlafkoje im Seehaus an die leider allzu früh (2001) an Tuberkulose Verstorbene. Ihr verdanke ich auch meinen mit chinesischen Schriftzeichen transkribierten Namen auf einem schönen Siegel: Kung (Konfuzius), Han (China), se (Gelehrter). Von ihr lerne ich aber auch, die Errungenschaften der kommunistischen Revolution differenziert zu bewerten. Denn diese Revolution hatte ihre große Familie zwar getrennt, jedoch ihren Zusammenhalt nicht zerstört. Die einen entschieden sich für Taiwan, die anderen für Maos kommunistisches China. Später lerne ich in Peking einerseits ihren Onkel kennen, der in Opposition zum Regime gestanden hatte und eben aus dem Zwangsarbeitslager zurückgekommen war, andererseits ihre Tante, die einzige Ministerin (für Energiewirtschaft) im Kabinett des Reformers Deng Xiaoping, in deren diskret abgeschirmter, aber nicht übermäßig luxuriöser privater Residenz wir einen Abend verbringen.
Durch Studien, Reisen und persönliche Begegnungen habe ich in der Folge erhebliche Anstrengungen unternommen, mir die Bedeutung Chinas gerade als geistige Großmacht sowohl durch historische Forschung wie durch konkrete Anschauung zu erschließen und mir einen lebendigen Eindruck von den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen zu verschaffen.
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