Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
heiligen Berg der Daoisten, zu dem wir auf langen Treppen emporgestiegen sind. Frauen in goldgelben Gewändern vollziehen hier unter Leitung einer Oberpriesterin eine ruhige und feierliche Liturgie mit Gesang, Musik und Weihrauchopfern (keine Tieropfer), an der auch Männer teilnehmen können. Von oben bewundern wir die genial konzipierte große Bewässerungsanlage von Dujiangyan (unterdessen ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen). Dies alles erleben wir in nur wenigen Dutzend Kilometern Distanz von Sichuans Hauptstadt Chengdu , dem westchinesischen Wirtschaftszentrum, das für gutes Essen berühmt ist, aber wenig Sehenswürdigkeiten bietet, wie etwa die große Pagode des »kostbaren Lichtes«. Im buddhistischen Wenshu-Kloster mit über 400 Statuen dürfen wir trotz wiederholter Bitten nicht filmen, da wir dafür keinen Antrag in Peking gestellt hatten.
Schließlich das dritte Bild in Tibet: Julia, Will und ich blicken in Lhasa vom Dach des Jokhang-Tempels hinüber zum gewaltigen Potala-Palast (gut 130 Meter über der Stadt liegend), und da steht mir die wechselvolle schwierige Geschichte Tibets besonders vor Augen. Wir werden nachher auf den Treppen so weit zum Palast hinaufsteigen, wie wir können. Den obersten Bereich aber dürfen wir nicht besichtigen. Es besteht ein gewaltiger Kontrast zwischen den Pilgern, die im Tempel ihre Riten vollziehen, und den Tibetern auf der Straße, die im Verhältnis zu den chinesischen Soldaten in der Minderzahl scheinen. Ich kann nicht anders, als den Potala-Palast mit dem Vatikan zu vergleichen: Die Distanz dieses Palastes und seiner Regierung von der religiösen Gründergestalt scheint mir ebenso groß zu sein. Jedenfalls ist er ein beeindruckendes Bauwerk unmittelbar vor der riesigen Gebirgskulisse des Himalaja. Der Dalai Lama war schon längst aus diesem Palast geflüchtet und hatte sein Domizil im nordindischen Dharamsala aufgeschlagen (vgl. Kap. VIII: Das Diamantfahrzeug).
Bei dieser intensiven Beschäftigung mit der Kultur und Religion Chinas geht mir auf, wie oberflächlich und undifferenziert die traditionelle Rede von »Ost und West« ist, auch die Rede von »westlichen und asiatischen Werten«. So verhält sich meine chinesische Gesprächspartnerin zum Beispiel gegenüber der indischen Lehre von der Wiedergeburt absolut ablehnend; sie könne sich nicht vorstellen, dass ihr Großvater – aufgrund eines negativen Karma – als Ochse oder Fliege wiederkommen solle. Der Wiedergeburtsgedanke sei nicht chinesisch, sondern indisch, nach China importiert durch den Buddhismus, eine Fremdreligion, die sich dann freilich mit Daoismus und Konfuzianismus zu einer authentisch chinesischen Religion vermischt habe. Die Chinesen denken aber von Haus aus nicht zyklisch, sondern geschichtlich linear und sind sich aufgrund ihrer schon frühzeitig einsetzenden Geschichtsschreibung dieser ihrer Geschichte anders als die Inder durchaus bewusst. China besitzt mit seinen rund 5000 Jahren historisch fassbarer Geschichte die älteste noch heute bestehende Hochkultur unseres Planeten.
So drängt sich mir allmählich die Einsicht auf: Die chinesischen Religionen bilden neben den Religionen nahöstlicher und indischer Herkunft ein drittes eigenständiges, kulturhistorisch gleichwertiges religiöses Stromsystem , das sich schließlich ausdehnte bis Korea und Japan, Vietnam und Taiwan. Diese fernöstlichen Religionen haben aufs Ganze gesehen einen weisheitlichen (»sapientialen«) Charakter – bei allen zahllosen Beeinflussungen und Überschneidungen mit dem indisch-mystischen und dem nahöstlich-prophetischen Stromsystem. Ihr Grundtypus ist weder der Prophet noch der Guru, sondern der Weise . So gesehen sind Indien und China, Südasien und Ostasien – von Schrift und Literatur angefangen, über Kunst, Tanz und Kleidung bis zur Mentalität der Menschen – zwei verschiedene Welten. Und ich gestehe, dass mir die eher von nüchterner Rationalität (nicht Rationalismus!) und historischem Denken (nicht Historismus!) geprägte chinesische Kultur persönlich immer leichter zugänglich war und ist als die Welt des indischen Mystizismus und seiner überreichen Mythologie.
Interkulturell-interreligiöser Dialog (1987)
In öffentlichen Dialogen an der Universität Tübingen 1987 behandelt JULIA CHING mit mir – nach zwei einführenden Vorlesungen unseres Sinologen TILEMANN GRIMM (»Ein deutsches Chinabild im europäischen Rahmen«) und des Theologen KARL - JOSEF KUSCHEL (»Chinesische Weisheit in
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