Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
durchaus, sie bewundern und schätzen sie hoch. Aber wenn Autoren das Recht der freien Meinungsäußerung abgesprochen wird, so wird jede deutsche Zeitung für sie Partei ergreifen, da kann auch eine deutsche Regierung nichts dagegen tun.« Die Diskussion über diesen Punkt versachlicht sich und endet einvernehmlich. Das war, wie Stephan Schlensog nachher meinte, ein »Crashkurs in Diplomatie«. Selbst in China bestätigt sich so meine Erfahrung, dass man mit unerschrockenen, kundigen und zugleich verständnisvollen Argumenten sich durchaus Respekt verschaffen kann, besser als mit der in der Diplomatie (und auch in der Industrie) oft praktizierten Leisetreterei.
Unser Tischgespräch verläuft angenehmer, als die Rede auf das Weltethos kommt. Der Minister ganz eindeutig: »Das Weltethos (Global Ethic oder World Ethic) ist in China willkommen, und zwar sowohl in der Wissenschaft wie in der Politik.« Gemäß dem konfuzianischen Leitsatz »Harmonie in Verschiedenheit« glauben die Chinesen, dass das harmonische Zusammenleben aller Kulturen das Fundament der Existenz und Entwicklung der heutigen Menschheit ist. Verschiedene konfuzianische Leitsätze über die grundlegenden Prinzipien der Humanität, vor allem natürlich die Goldene Regel der Gegenseitigkeit, haben eine positive Auswirkung.
Mein Buch »Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft« ist erfreulicherweise noch rechtzeitig vorher auch in Peking auf Chinesisch erschienen und tut seine Wirkung. Verschiedene Artikel erscheinen in chinesischen Zeitschriften. Wir sind von den Medien umworben, auch Dr. Schlensog gibt mehrere Interviews für Zeitungen, Radio und Fernsehen. Besonders stolz bin ich auf einen ganzseitigen Artikel mit großem Foto in der englischsprachigen Zeitung Chinas, »China Daily« vom 11. November 2009, mit der Schlagzeile »China’s Traditions are an Important Element of a Global Ethic«. Die Journalistin GUO SHUHAN weist gleich zu Beginn auch auf meinen »chinesischen« Namen hin. Dann berichtet sie von meiner positiven Beurteilung der Bestrebungen des Jesuiten MATTEO RICCI (16./17. Jh.) und vor allem von meiner Hochschätzung des Konfuzius selber und schließlich von den ethischen Werten »humanity, mutuality and harmony« als chinesischem Beitrag zum Weltethos.
Eine Rede in der Verbotenen Stadt (2009)
Wer je Bernardo Bertoluccis grandioses Filmepos »Der letzte Kaiser« gesehen hat, erhielt einen bleibenden lebendigen Eindruck von jener sich je nach Jahreszeit in unterschiedlichen Farben abspielenden Staatsliturgie rund um den Kaiser, wie sie sich bis zur republikanischen Revolution um den Ersten Weltkrieg halten konnte. Eine versunkene Welt, die nie wiederkehren wird.
Als ich 1979 zum ersten Mal die riesigen Plätze und Hallen der Verbotenen Stadt durchschreiten darf, sind viele Räume leer und düster. Immerhin kann ich mir schon früh eine Bronzekopie des elegant-kraftvollen »Fliegenden Pferdes« aus der Han-Dynastie (2. Jh. n. Chr.) erwerben, an dem ich mich bis heute immer wieder neu erfreue.
Rund 30 Jahre später, im Jahre 2009, wird zum ersten Mal einem wissenschaftlichen Kongress gestattet, in der Verbotenen Stadt ein großes Bankett abzuhalten. Als wir Teilnehmer des Zweiten Internationalen Sinologenkongresses ganz hinten im ehemals persönlichen Bereich des Kaisers aus den Bussen steigen, spricht mich einer der Verantwortlichen der Kongressleitung an: Ich möge doch eine kurze Dankesrede im Namen der etwa 200 Gäste halten!
Ich kann diesen Wunsch unmöglich ablehnen und überlege mir während des Essens die ganze Zeit, was ich da sagen soll. Im Saal, wo früher der Kaiser gezeichnet und gemalt hat, sitze ich am Ehrentisch mit dem Rektor der Universität und der Präsidentin der etwa 350 Konfuzius-Institute in über 100 Ländern. In meiner Dankesrede führe ich zuerst aus: China wandelt sich offenkundig, im Jahr 1979 wusste man noch nicht, ob man Konfuzius loben oder tadeln sollte. Heute aber ist er für Chinesen das große Symbol der Humanität, der die Goldene Regel der Gegenseitigkeit und Solidarität zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte formuliert hat. Es war mir ein Leichtes, meine Rede in einem Plädoyer für ein globales Ethos, ein Weltethos, gipfeln zu lassen und mit großer Dankesbezeigung zu enden, was mit weit mehr als nur höflichem Beifall der Anwesenden quittiert wurde. So hoffe ich denn, dass die Konfuzius-Institute nicht nur als »Soft Power« Chinas im Ringen um mehr Einfluss in der
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