Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Welt agieren, sondern als humanitäre Kraft beim Aufbau einer neuen menschlicheren Weltordnung.
Zwei Tage nach dem Sinologenkongress, am 2. November 2009, bin ich eingeladen zu einem Vortrag über unser »Manifest für ein globales Wirtschaftsethos« an der Peking-Universität (Beida), der ältesten und ehrwürdigsten akademischen Institution Chinas, angekündigt durch ein großes Plakat. Ich bin glücklich darüber, dass es mir gelingt, an den beiden miteinander konkurrierenden Universitäten Renmin und Beida willkommen zu sein und Gelegenheit zu Vortrag und Diskussion zu haben.
Am Vormittag dieses Tages bin ich in das neue Institute of Advanced Humanistic Studies eingeladen, das meinem Freund, dem berühmten chinesischen Gelehrten Prof. TU WEIMING ( früher Harvard University), genehmigt worden war. Mit ihm soll der in Deutschland promovierte Philosoph Dr. YANG XUSHENG ein Zentrum für Weltreligionen und Weltethos aufbauen. Ich führe mit Tu Weiming einen rund zweistündigen Dialog über chinesische Kultur und Religion, der in einem Film festgehalten wird, damit er in verschiedenen chinesischen Zentren und Gremien gezeigt werden kann. Dabei äußert er den Wunsch, die Zusammenarbeit mit der Stiftung Weltethos zu intensivieren.
Anschließend folgt ein gemeinsames Essen und dann der öffentliche Vortrag in der großen Aula »The Global Economic Crisis Requires a Global Ethic«, in welchem ich das Manifest »Global Economic Ethic. Consequences for Global Businesses« erkläre, das ich vorher schon in New York, Basel und Melbourne der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Man hatte es in aller Eile ins Chinesische übersetzt und auf die Leinwand projiziert.
Alles verläuft bestens, auch die anschließende Diskussion. Es ist offenkundig, was mir der Religionsminister bei unserem Treffen gesagt hatte: Das Weltethos ist in China willkommen, sowohl unter den Gelehrten wie unter den Politikern. In der Tat stellt es ja gerade für China eine Hilfe dar in einer Situation des Übergangs, wo die alte marxistische Ideologie die Jugend nicht mehr anspricht, andererseits aber kruder Materialismus auch keine Orientierung für die Zukunft sein kann.
Ein denkwürdiges Zusammentreffen: der Dichter Yang Lian (2012)
Es ist eine überraschende Begegnung über die Kontinente und Zeiten hinweg. Am 28. Januar 2012 erhalte ich im oberitalienischen Udine den renommierten Nonino-Kulturpreis , gestiftet von der alteingesessenen Grappa-Familie Nonino. Die beiden anderen Preisträger sind der britische Historiker MICHAEL BURLEIGH , Autor einer Studie über den Zweiten Weltkrieg, und der chinesische Lyriker YANG LIAN . Gerade mit ihm, mittlerweile ein berühmter Dichter, verbindet mich, so stelle ich fest, eine langjährige Bekanntschaft.
In meinen öffentlichen Dialogvorlesungen mit Julia Ching über »Christentum und chinesische Religionen«, im Jahre 1988 veröffentlicht, endete mein Korreferat über den Konfuzianismus mit dem Hinweis »auf einen der wichtigsten jungen Lyriker, namens YANG LIAN , der ebenfalls die Verheerungen der Kulturrevolution am eigenen Leib erfahren hatte, sich von der kulturrevolutionären Schwarz-Weiß-Malerei absetzte und in der Lyrik wieder eine individuelle Dimension, die lange verschlossene persönliche Gefühlswelt des Ich, zum Ausdruck bringt« (S. 153). Diese Information hatte ich von dem damals an der Universität Tübingen lehrenden Sinologen KARL-HEINZ POHL , einem hervorragenden Kenner der chinesischen Gegenwartsliteratur, der auch der erste deutsche Mentor Yang Lians war. Ich zitierte damals aus Yangs Gedicht »Pilgerfahrt«:
»Schau nur wie der Wind die Gräberkette am zerstückelten
Horizont einebnet
Hör nur auf den Chor der Herzen, welchem Generationen
ihre Träume anvertrauten
Denk nur tief nach, heb dann den Kopf
Und zähle einmal die Sterne, die es nicht ertragen,
einsam zu verglühen
Das wird der beste Trost sein
Das Heilige bleibt ewig friedvoll.« (S. 154)
Nun stelle ich fest, dass Yang Lian sich diese Grundhaltung bewahrt hat und dafür ausgezeichnet wird. Er dediziert mir seine 2009 in deutscher Sprache erschienenen Gedichte und Reflexionen »Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons«. Und ich revanchiere mich mit der in Peking erschienenen chinesischen Ausgabe meines mit Julia Ching veröffentlichten Buches »Christentum und chinesische Religion«.
Ein Weltethos-Institut an der Peking-Universität (2012)
Das Jahr 2012 markiert den vorläufigen Endpunkt und auf seine
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