Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Kuwait, keine Förderung der Demokratisierung in Saudi-Arabien und anderen autokratisch regierten Staaten, kein Ende der israelischen Besatzung Palästinas – Nährboden allen arabischen Terrorismus. Und insofern stellt sich nun die Frage: Haben wir 1989 die Chance eines neuen Paradigmas nach 1918 und 1945 ein drittes Mal verpasst?
1989 – eine dritte Jahrhundertchance verpasst?
Den Ersten Weltkrieg (1914 – 18) kenne ich nur vom Hörensagen, von meinen Eltern vor allem, und aus meiner späteren Lektüre. Ich bin ja zehn Jahre nach Ende dieser ersten Weltkatastrophe geboren, die eine Bilanz von etwa zehn Millionen Toten aufweist. Und als Folge davon die völlige Veränderung der Weltkarte: Kollaps des Deutschen Kaiserreiches, des Habsburgerreiches, des Zarenreiches, des Osmanischen Reiches, zuvor schon des Chinesischen Kaiserreiches. Weitere Folgen: amerikanische Truppen auf europäischem Boden und die Heraufkunft des Sowjetimperiums. Heute ist klar: Dies war der Anfang vom Ende des eurozentrisch-imperialistischen Paradigmas der Moderne. Und es war zugleich der Beginn eines noch nicht definierten, aber von den Weitsichtigen bereits anvisierten neuen Paradigmas. Dieses war von den USA vorgeschlagen worden: Mit seinen »14 Punkten« hatte Präsident WOODROW WILSON am 8. 1. 1918 sein Friedensprogramm skizziert: einen »Gerechtigkeitsfrieden« ohne Besiegte und die »Selbstbestimmung der Völker« ohne Annexionen und Reparationsforderungen.
Aber auch in der neutralen Schweiz, die ab 1919 zum Sitz des Völkerbundes wird, muss man zur Kenntnis nehmen: Das »Versailles« der kurzsichtig nationalistisch denkenden französischen und englischen »Realpolitiker« hat die Realisierung des neuen Paradigmas verhindert: statt Gerechtigkeitsfrieden ein Diktatfrieden ohne die Beteiligung der Besiegten. Auswirkungen sind auch in der Schweiz fühlbar und bilden die finsteren Mächte meiner Jugend: Faschismus in Italien und Nazismus in Deutschland (sekundiert in Fernost vom japanischen Militarismus) – katastrophale reaktionäre Fehlentwicklungen, die zwei Jahrzehnte später zum Zweiten Weltkrieg führen, der schlimmer ist als alles in der Weltgeschichte bisher Dagewesene.
Diesen Zweiten Weltkrieg (1939 – 45) habe ich mit wacher Aufmerksamkeit miterlebt, wie in meinem ersten Erinnerungsband (Kap. I: Wurzeln der Freiheit) eingehend beschrieben. Seine Bilanz: etwa 50 Millionen Tote und weitere Millionen Vertriebene. In der Schweiz feiern wir mit dem befreiten Europa den 8. Mai 1945 als »Victory Day«. Denn Nazismus und Faschismus sind erledigt. Der Sowjetkommunismus freilich zeigt sich nach außen stärker denn je, innerlich aber befindet er sich aufgrund der stalinistischen Schreckensherrschaft politisch-wirtschaftlich-sozial bereits in der Krise. Wieder geht die Initiative für ein neues Paradigma von den USA aus: 1945 Gründung der Vereinten Nationen in San Francisco und das Bretton-Woods-Abkommen zur Neuordnung der Weltwirtschaft mit der Gründung von Internationalem Währungsfond und Weltbank, dann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, weiter die amerikanische Wirtschaftshilfe für den Aufbau Europas (Marshallplan) und dessen Einbezug in ein Freihandelssystem. Aber die große Enttäuschung: Der Stalinismus blockiert dieses neue Paradigma für seinen Einflussbereich, und es kommt zur Teilung der Welt in Ost und West.
Doch man darf im 20. Jahrhundert trotz der Kriege, Massaker und Flüchtlingsströme, trotz des Archipels Gulag, des Holocausts und der Atombombe manche Veränderungen zum Besseren nicht übersehen. Über die zahllosen früher unvorstellbaren wissenschaftlich-technologischen Errungenschaften hinaus können sich die schon nach 1918 zu einer neuen nachmodernen Gesamtkonstellation drängenden Bewegungen nach 1945 durchsetzen: Friedensbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung, Ökumenebewegung. Dies bedeutet: eine neue Einstellung zu Krieg und Abrüstung, zur Partnerschaft von Mann und Frau, zum Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, zum Frieden nicht nur zwischen den christlichen Konfessionen, sondern auch zwischen den Weltreligionen. Alles Dimensionen des neuen Paradigmas.
Vorarbeiten für das Projekt Weltethos: UNESCO und WEF
Schon zu Beginn der 80er-Jahre hatte ich, wie berichtet, den mir wohlgesinnten Ägyptologen HELMUT BRUNNER um Rat gefragt, ob er denn einen Dialog zwischen Theologen und Religionswissenschaftlern überhaupt für möglich ansehe. Er bejaht dies. So
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