Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ungewöhnlichen Architektur. Tatsächlich höre ich, dass das Hotel gebaut wurde vom weltberühmten chinesisch-amerikanischen Architekten I. M. PEI . Als Schüler von Gropius der klassischen Moderne verpflichtet, hatte er, der dann später auch die Glaspyramide des Louvre und den Neubau des Deutschen Historischen Museums in Berlin schuf, das ganz und gar moderne Hotel gebaut, aber unter Verwendung klassischer Motive sowohl für die Außenfassade wie bei der Innenarchitektur und der ganzen Dekoration des Hotels. Vielleicht ein Symbol dafür, wie ein universales Ethos durchaus chinesische Züge bekommen kann. Ich freue mich jedenfalls auch an der Umgebung, dem kleinen See vor meinem Fenster und den Bäumen in den intensiven herbstlichen Farben und den typisch chinesischen Steinformationen.
Am Freitag, den 2. November, beginnt das Beijing Forum im weiträumigen Diaoyutai State Guesthouse. Es gilt als das renommierteste Kultur-Forum Chinas mit vielen Hundert Wissenschaftlern aus aller Welt. Nach Reden und Grußworten hochrangiger Vertreter aus Partei und Wissenschaft (u. a. der Erziehungsminister, die Vizepräsidentin des Standing Committee der Kommunistischen Partei, der frühere indische Staatspräsident Kalam und ein früherer koreanischer Ministerpräsident) habe ich die Ehre, die erste von vier »keynote speeches« zu halten: » The Harmony of Civilizations and Prosperity for All – Challenges and Opportunities: New Thinking in New Reality«.
Einleitend bemerke ich, dass ich meine Rede lieber vier Wochen später – also nach dem großen Parteikongress – gehalten hätte, dafür aber jetzt ungezwungener reden könne. So greife ich denn die in China verbreitete Klage über eine gefährliche »Anomie« auf, eine »Gesetzlosigkeit«, einen Mangel an sozialen Bindungen, Werten und sozialer Ethik, der moralische Deregulierung hervorruft. Das Gegenteil also von Harmonie.
Der (damals gerade aktuelle) Mord- und Korruptionsskandal eines früheren Mitglieds der chinesischen Führung und seiner Frau habe ja auch die Spitzen von Staat und Partei alarmiert. Ich zitiere Premierminister WEN JIABAO , der im April 2012 in Hinblick auf die Korruption, eine für die chinesische Partei lebensgefährliche Entwicklung, bemerkt hatte: »China ist ein sozialistisches Land, regiert durch das Recht; die Würde und Autorität des Rechts kann nicht zertrampelt werden. Es gibt keine spezielle Person vor dem Gesetz.«
Dennoch hört man immer wieder die Klage: Wie kann vermieden werden, dass »die Würde und Autorität des Rechts zertrampelt« werden? Noch mehr Gesetze? Sie helfen nicht, wenn das Gesetz als solches infrage gestellt wird. Oder mehr Polizei und mehr Gerichte? Sie helfen auch nicht, wenn selbst Polizei, Justiz und Armee für Korruption anfällig sind. Das ist wahrlich nicht nur in China, sondern auch anderswo ein Problem: Ich denke zum Beispiel an das komplexe Betrugssystem des siebenfachen Tour-de-France-Siegers Lance Armstrong (USA) oder an die Sexorgien des früheren Chefs des IWF, Dominique Strauss-Kahn (Frankreich) und an den jahrzehntelangen 100-fachen Missbrauch von Kindern durch einen berühmten Fernsehmoderator der BBC – erst nach seinem Tod aufgedeckt. Was kann also gegen die »Anomie«, die moralische Deregulierung, getan werden? Wie kann statt Anomie Harmonie gefördert werden?
Ich gebe natürlich zu: Es gibt leider kein Allheilmittel gegen all diese Probleme. Selbstverständlich bietet auch das Projekt eines elementaren gemeinsamen Kernethos, eines Menschheitsethos, eines Weltethos , keine fertige Lösung im Sinne eines Rezepts. Aber die Realisierung eines Weltethos stellt doch einen wirksamen Antwortversuch dar, insofern es in den Krisen einer globalisierten Welt einen ethischen Orientierungsrahmen (weltweit und zu Hause) anbietet und zugleich ein Koordinatensystem, einen moralischen Kompass , der in allen Lebensbereichen, im Großen wie im Kleinen, für Jung und Alt hilfreich sein kann.
Der Westen hatte erst im 18. Jahrhundert im Zusammenhang der Amerikanischen und Französischen Revolution die Allgemeinen Menschenrechte zu formulieren vermocht, und erst 1948 sind diese von der Generalversammlung der Vereinten Nationen für alle Staaten verbindlich proklamiert worden. Der Osten aber, genauer China, hat schon fünf Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung, vor allem durch den Weisen KONFUZIUS , das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen in Gesellschaft und Staat geweckt. Ja, er hat als Erster die zwei
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