Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Kontext der postsozialistischen Staaten des Ostens an einem Symposion der Internationalen Zeitschrift »Concilium« in Budapest am 12./13. Juni 1992. Geleitet wird es von meinem Tübinger Kollegen NORBERT GREINACHER , der sich schon seit Langem um Kontakte mit den kritischen Intellektuellen in Osteuropa bemüht hat. Mein alter tschechischer Brieffreund Dr. KAREL FLOSS und ich leiten die Diskussion ein mit Kurzreferaten über das Thema »Ein christliches Europa?«. Anschließend referieren JOHANN BAPTIST METZ und der ungarische Religionssoziologe MIKLÓS TOMKA über »Europa in der Einen Welt: ein eurozentrisches Europa?«. Informativ ist die Podiumsdiskussion am zweiten Tag, wo die Situation der Kirche in den verschiedenen Ländern vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Lage diskutiert wird. Die Professoren REMIGIUSZ SOBANSKI und TAMÁS NYÍRI referieren über Polen und Ungarn. Auch über Jugoslawien, Rumänien und die Tschechoslowakei hören wir sehr interessante, wenngleich nicht gerade ermutigende Referate. Da die katholische Hierarchie mir gegenüber wie immer auf Distanz bedacht ist, nehme ich die Einladung des lutherischen Bischofs IMRE SZEBIK an und spreche bereits am 9. Juni in Budapest im Prunksaal des Neuen Rathauses über »Weltreligionen, Weltfrieden und Weltethos«.
Europa stellt gerade für mein Heimatland Schweiz eine eher zwiespältige Herausforderung dar. Seit der berühmten Rede des britischen Premierministers WINSTON CHURCHILL für ein vereinigtes Europa am 19. September 1946 an der Universität Zürich sind Schweizer wie Briten theoretisch für Europa, halten aber mehrheitlich ein praktisches Engagement für die europäische Integration nicht für notwendig. Gerade 1991, im 700. Jubiläumsjahr der Schweizerischen Eidgenossenschaft, spielt das Thema Europa eine besondere Rolle. Im Schweizerischen Bundesrat, der Bundesregierung, ist die Überzeugung gewachsen, dass man sich stärker europäisch engagieren sollte. Deshalb lädt der Bundesrat ein handverlesenes Publikum zu einem Europatag in Sils Maria am 6./7. September 1991 ein. Mir macht es Freude, bei dieser Gelegenheit einmal sämtliche sieben Bundesräte persönlich begrüßen zu können, aber auch berühmte Landsgenossen wie den Architekten MARIO BOTTA : nett, dass er mir noch zwanzig Jahre später sein neues Gesprächsbuch »Architektur leben« mit origineller Widmung zusendet.
Aber eine schwierigere Aufgabe habe ich am 23. November 1991 an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich zu bewältigen. Rektor HANS VON GUNTEN hatte mich eingeladen, am »ETH-Tag« vor 600 Gästen aus dem In- und Ausland den Festvortrag zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft zu halten. Ich hatte zuerst die große Arbeit, die mit einem solchen Vortrag verbunden ist, gescheut, ließ mich dann aber doch in einem langen Telefongespräch zur Zustimmung bewegen durch das Argument des Rektors, er hätte in der Schweiz niemanden gefunden, der von Befürwortern wie von Kritikern des Jubiläums gleichermaßen akzeptiert sei. So halte ich denn den Vortrag unter dem Titel » Die Schweiz ohne Orientierung? Europäische Perspektiven«, der noch im selben Jahr in Buchform auf Deutsch, später auch auf Französisch und Italienisch erscheint.
Ich vergleiche in meiner Rede Vergangenheit und Gegenwart: Zu Recht habe sich die umzingelte Schweiz während der Nazi- und Kriegszeit nach innen und nach rückwärts auf die eigene Geschichte besonnen. Die Gesamtsituation der Welt, Europas und damit auch der Schweiz habe sich jedoch in der Zwischenzeit grundlegend verändert. In meiner Diagnose zur gegenwärtigen Lage der Nation spare ich nicht mit kritischen Bemerkungen: Die Schweiz stehe heute in Gefahr, ein introvertierter und rückwärtsgewandter Sonderling zu werden. Ich lege weiter dar, dass sich die Schweiz heute in einem Paradigmenwechsel großen Stils, einem Wechsel der gesellschaftlichen Gesamtkonstellation befinde. Dabei müsse ein Stück Souveränität des Nationalstaates um des europäischen Ganzen willen geopfert werden, damit die Schweiz durch Zusammenarbeit das Herzland Europas bleiben könne. Ich rufe dazu auf, Europa aktiv mitzugestalten und den grundsätzlichen Entscheid der Regierung für Europa zu unterstützen. Freilich wurde diese europafreundliche Politik im folgenden Jahr durch eine Volksabstimmung desavouiert, in der sich eine sehr knappe Mehrheit der Schweizer gegen einen Eintritt in den Europäischen
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