Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ermutigt, nehme ich mit meinen Tübinger Kollegen von der Islamkunde, JOSEF VAN ESS , und der Indologie, HEINRICH VON STIETENCRON , Kontakt auf. Zu meiner Freude erklären sich beide zu öffentlichen Dialogvorlesungen mit mir bereit, auch dazu, als Dritten später noch den Göttinger Buddhologen HEINZ BECHERT hinzuzuziehen, da Tübingen keinen Lehrstuhl für Buddhologie besitzt. Die Vorlesungen werden ein Erfolg. Ich selber habe von ihnen am meisten gelernt. Dabei ist mir bei allen Einsichten in Lehre, Ritus, Ethos und Bräuche der verschiedenen Religionen eines deutlicher geworden: dass der Religionsdialog alles andere als nur eine akademische Angelegenheit ist, dass er vielmehr eine weltpolitische Bedeutung besitzt.
Und ich nutze die 1980er- und 1990er-Jahre, um den Dialog auf eine breite wissenschaftliche Basis zu stellen; ich rufe in Erinnerung:
1. Die Theorie vom Paradigmenwechsel , wie sie der Amerikaner THOMAS S. KUHN in seinem wissenschaftstheoretischen Klassiker über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen in der Welt der Naturwissenschaften entwickelt hatte, wende ich auf die Religionsgeschichte an. Eingehend analysiere ich die epochalen Paradigmenwechsel in der Geschichte von Judentum und Christentum, dann auch des Islam und schließlich der Religionen indischen und chinesischen Ursprungs.
2. Eine ökumenische Kriteriologie entwickle ich konzentriert auf die Frage: Was ist die »wahre Religion«? Neben dem spezifisch christlichen Kriterium für Christen (Jesus Christus selbst) sind wichtig die allgemein religiösen Kriterien (das Authentische oder Kanonische der betreffenden Religion) und schließlich das für alle Religionen, Philosophien und Ideologien grundlegende Kriterium des Humanum, des wahrhaft Menschlichen.
3. Öffentliche ökumenische Dialoge über die großen Weltreligionen publiziere ich anschließend zusammen mit meinen Dialogpartnern. Dem Epilog zu unserem gemeinsamen Buch »Christentum und Weltreligionen« gebe ich schon 1984 den programmatischen Titel »Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden« . Jener Autor des berühmten Artikels über den »Clash of Civilizations?« (»Zusammenprall der Kulturen?«) in »Foreign Affairs« 1993 (klugerweise noch mit einem Fragezeichen versehen!), der Politikwissenschaftler SAMUEL HUNTINGTON , hätte zehn Jahre später gut daran getan, sich in der theologisch-religionswissenschaftlichen Literatur umzuschauen, wenn er schon über Religionen schreiben und sie (besonders den Islam) kritisch aburteilen wollte.
In der Folge sind es zwei Herausforderungen, die mir außerordentliche geistige Anstrengungen abverlangen, aber gerade so mir erlauben, frühzeitig Grundlagen zu produzieren für das spätere »Projekt Weltethos«: Die erste Herausforderung ist ein Grundlagenpapier für ein Kolloquium der UNESCO in Paris . Vom 8. bis 10. Februar 1989 findet in Paris am Sitz der UNESCO jenes Kolloquium statt, zu dem mein Buch »Christentum und Weltreligionen« die Anregung gegeben hatte. Dieses Buch hatte KLAUS VON RAUSSENDORFF , stellvertretender Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der UNESCO, mit Begeisterung gelesen und mir ein Kolloquium vorgeschlagen. 1 Ich schreibe dafür das Grundlagenpapier und darf auch die Referenten vorschlagen. Eingeladen hat das Goethe-Institut Paris mit seinem sehr engagierten Leiter, Dr. GEORG LECHNER . Federführend ist die deutsche UNESCO-Vertretung, Generaldirektor FEDERICO MAYOR eröffnet im Namen der UNESCO. Mein Thema: »Pas de paix entre les nations sans paix entre les religions« . Folgende Professoren nehmen zu meinem Grundlagenpapier Stellung: MASAO ABE (Kyoto) für den Buddhismus, MOHAMMED ARKOUN (Paris) für den Islam, EUGENE B. BOROWITZ (New York) für das Judentum, CLAUDE GEFFRÉ (Paris) für das Christentum, der Sinologe LIU SHUHSIEN (Hongkong) für die chinesische Religion, BITHIKA MUKERJI (Benares) für den Hinduismus sowie KARL JOSEF PARTSCH (Bonn) aus der Sicht des Völkerrechts. Diese Beiträge werden in dem von mir gemeinsam mit Karl-Josef Kuschel herausgegebenen Band »Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen« (München 1993) veröffentlicht.
Die zweite Herausforderung ist ein Plenumsvortrag beim Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum, WEF) in Davos . Schon am 3. Oktober 1989 war der Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums, Prof. KLAUS SCHWAB , nach Tübingen gekommen, um mich für einen solchen Vortrag zu gewinnen. Ich hatte
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