Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ja schon zehn Jahre zuvor (8. 2. 1979) in Davos einen Vortrag gehalten mit dem kühnen Titel »Sollen Manager an Gott glauben?«. Damals hieß das Weltwirtschaftsforum noch »European Management Symposium«. Ich bin überzeugt: Wenn es uns nicht gelingt, auch Vertreter der Politik, Wirtschaft und Finanzwelt für die ethische Programmatik zu gewinnen, werden alle noch so gut gemeinten Forderungen von Religionen und Kirchen ins Leere fallen. Am 24. Oktober 1989 starte ich ein erstes Seminar in Tübingen über die Problematik »Gibt es ein gemeinsames Ethos der Weltreligionen?«. Das Thema des Davoser Vortrags (7. 2. 1990) lautet: »Warum brauchen wir globale ethische Standards, um zu überleben?« . Ich habe diesen Vortrag kurz darauf (22. 2. 1990) an der Universität Kiel im öffentlichen Gespräch mit den Philosophen Prof. HANS JONAS und Prof. KARL-OTTO APEL getestet. Im folgenden Jahr halte ich in Davos den Vortrag zu dem brisanten Thema: »Eine Friedensvision für den Nahen Osten. Verantwortung von Juden, Christen und Muslimen« (2. 2. 1991).
Zur gleichen Zeit habe ich auch ein neues großes Forschungsprojekt über die drei abrahamischen Religionen in Arbeit, das mir die Robert-Bosch-Jubiläumsstiftung und der Daimler-Benz-Fonds seit dem Jahr 1989 ermöglicht hatten und das der Thematik »Kein Weltfriede ohne Religionsfriede« gewidmet ist. Die ausführliche Disposition dieses Forschungsprojekts bildet zusammen mit dem Pariser UNESCO-Vortrag und dem Davoser WEF-Vortrag die Grundlage für das Buch »Projekt Weltethos« . Dieses kann ich angesichts der sich zuspitzenden Staatskrise der DDR und des Falls der Berliner Mauer schon wenige Wochen später 1990 aufgrund dieser Vorarbeiten verhältnismäßig rasch vollenden und veröffentlichen. Es wird in kurzer Zeit ein Bestseller und bleibt ein »Longseller«. Ohne dass ich es ahnen kann, bin ich geistig vorbereitet auf eine neue Periode der Weltgeschichte, die im Zeichen der Globalisierung stehen wird.
Christliches Europa?
Ein halbes Jahr nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, im Sommersemester 1990, greife ich die brennende Frage nach dem neuen Weg Europas in einer Studium-generale-Reihe auf: »Christliches Europa? Analysen und Prospektiven«. Ich eröffne die Reihe am 23. April 1990 mit einer theologischen Zeitanalyse: »Europa im Epochenumbruch«. In den folgenden Wochen sprechen verschiedene illustre Persönlichkeiten aus Politik und Politikwissenschaft über einzelne Länderperspektiven: die britische (Prof. RALF DAHRENDORF , Oxford), die osteuropäische (Prof. OTA ŠIK , Prag/St. Gallen), die niederländische (Ministerpräsident RUUD LUBBERS , Den Haag), die französische (Prof. ALFRED GROSSER , Paris) und die deutsche (Prof. KURT BIEDENKOPF , Bonn).
Zu meinem großen Bedauern kann der frühere österreichische Bundeskanzler BRUNO KREISKY seinen für den 18. Juni 1990 geplanten Vortrag über österreichische Perspektiven nicht halten. Er ist schwer erkrankt und stirbt einen Monat später, am 29. Juli, im Alter von 79 Jahren. An Kreiskys statt halte ich selbst die Vorlesung und plädiere für ein Weltethos als Basis für das Europa der Zukunft.
Mir ist bei alldem wichtig: Keiner dieser überzeugten Europäer vertritt ein technokratisches Europa, wie dies in der Konzeption einer funktionalistischen Ökonomie und Politik besonders in Brüssel angestrebt wird. Dass Europa der geistigen Erneuerung bedarf, steht allerdings auch nicht im Vordergrund der Referate. Offenkundig aber wollen auch überzeugte Christen kein christlich restauriertes Europa vertreten, wie dies vom polnischen Restaurationspapst in seiner Re-Evangelisierungs-Kampagne angestrebt wird. Dass man mit einer rigorosen Ablehnung der Empfängnisverhütung und jeglicher Abtreibung keine Wählerstimmen gewinnen kann, hat sich sogar in der bayerischen CSU durchgesetzt. Dass die Gewissensfreiheit prinzipiell dem römischen Lehramt unterworfen sein solle, ist indiskutabel.
Ich versuche meinerseits Verständnis zu schaffen für einen dritten Weg zwischen dem technokratisch-säkularistischen und dem restaurativ-christlichen Europamodell: für ein ethisch fundiertes Europa. Also ein Europa, das zusammengehalten wird durch ein verbindliches Ethos . Einen Grundkonsens über gemeinsame Werte, Maßstäbe und Haltungen, der gerade zur Fundierung und Verteidigung der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaats nötig ist.
Testen kann ich meine Auffassung vom neuen Europa im
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