Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Insofern werden seine Chancen für die Papstwahl als gering eingeschätzt, und es fällt schließlich auf, dass er zum Konklave am Stock erscheint. Er sieht sich nicht mehr als Kandidat, erhält aber dennoch einige Stimmen. Gegen Ratzinger hat er keine Erfolgsaussichten. Ich treffe ihn nur noch einmal – kurz nach der Papstwahl 2005 in Castel Gandolfo.
Die Wahl Joseph Ratzingers 2005 – eine Riesenenttäuschung
Alte Riten können auch in modernen Zeiten ihren Reiz haben, besonders wenn sie als Weltereignis medial verbreitet werden. Die Papstwahl erfolgt in der Cappella Sixtina, deren Kamin anzeigt: schwarzer Rauch (aus verbrannten Stimmzetteln und Moos): keine Entscheidung. Weißer Rauch: Papst gewählt. Schon der erste Wahlgang ergibt für Ratzinger 47 Stimmen, für den Jesuiten und Erzbischof von Buenos Aires Bergoglio zehn, für Kardinal Martini von Mailand (der Kandidat vieler Reformkräfte) neun, für den konservativen Ruini sechs, und den früheren Kardinalstaatssekretär Sodano vier. Im dritten Wahlgang erhält Ratzinger 72 Stimmen, Bergoglio 40. Doch da platzt die Bombe: Bergoglio erklärt (aus eigenem Antrieb?), er würde die Wahl nicht annehmen. Damit ist im Grunde die Entscheidung gefallen. Im vierten Wahlgang bricht die Sperrminorität von einem Drittel, auf die wir unsere Hoffnung gesetzt hatten, mangels eines Kandidaten zusammen, und Ratzinger wird mit 84 von 115 Stimmen gewählt. Immerhin haben 31 gegen ihn gestimmt.
Ich selber sitze bei jenem entscheidenden Wahlgang mit meinem Team in Tübingen vor dem Fernseher. An diesem 19. April 2005 um 18.41 Uhr verkündet der Kardinalprotodiakon Jorge Medina, ein früher mit mir befreundeter chilenischer Konzilstheologe, die »große Freude«: »Habemus Papam, Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum, Dominum Josephum …« Ich brauche das Ende des Satzes nicht abzuwarten, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat. Ich sei aschfahl geworden, hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, sei vom Stuhl aufgesprungen und an die Terrassentür gegangen, erzählen später meine Mitarbeiter. Was mir undenkbar schien, ist eingetroffen: Ratzinger, der Großinquisitor und Gegner aller Kirchenreform, ist Papst! Doch ich habe mich rasch einigermaßen gefasst und sage: »Faktum ist Faktum. Ratzinger ist gewählt. Man wird sehen. Es muss ihm eine Chance gegeben werden.« Genau das drücke ich auch in der folgenden Pressemitteilung aus, die ich unmittelbar danach den Medien zur Verfügung stelle:
»Die Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst ist eine Riesenenttäuschung für die Ungezählten, die auf einen reformerischen Seelsorgepapst hofften.
Aber man muß abwarten . Die Erfahrung zeigt: Der Petrusdienst in der katholischen Kirche ist heutzutage eine derartige Herausforderung, daß er jede Person verändern kann: Wer als progressiver Kardinal ins Konklave ging, kann als konservativer Papst herauskommen (Montini – Paul VI.). Wer als konservativer Kardinal ins Konklave ging, kann als progressiver Papst herauskommen (Roncalli – Johannes XXIII.).
Die ersten Signale werden wichtig sein:
1. die Ernennungen für die wichtigsten Kurienämter, vor allem des Kardinalstaatssekretärs und des Chefs der Glaubenskongregation;
2. die Antrittsrede, die das Programm andeuten wird;
3. die erste Enzyklika, die den Kurs abstecken wird;
4. die ersten Entscheidungen in Sachen Organisation der Kurie und weitere Äußerungen in Lehr-, Moral- und Disziplinarfragen.
Der gewählte Name Benedikt XVI. läßt die Möglichkeit offen, daß ein gemäßigter Kurs eingeschlagen wird. Geben wir ihm also eine Chance : Wie bei einem Präsidenten der USA, sollte man einem neuen Papst 100 Lerntage zubilligen. Er steht in jedem Fall vor gewaltigen, längst aufgestauten und vom Vorgänger nicht erledigten Aufgaben :
– die Ökumene der christlichen Kirchen aktiv voranbringen;
– die Kollegialität des Papstes mit den Bischöfen und die allenthalben gewünschte Dezentralisierung der Kirchenleitung zu Gunsten einer größeren Autonomie der Ortskirchen realisieren;
– die Ebenbürtigkeit von Mann und Frau in der Kirche garantieren und die volle Partizipation der Frauen auf allen Ebenen der Kirche durchführen.«
Aber gilt für Joseph Ratzinger der Satz Friedrich Schillers (Thema meines Matura-Aufsatzes): »Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken«? Was tun?
Eine Sensation: Benedikt XVI. lädt seinen Kritiker ein
Ratzingers Vorgänger, Papst Wojtyła,
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