Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
hatte mir weder vor noch während noch nach meiner Verurteilung rechtliches Gehör gewährt. So war mir klar, dass ich auf den nächsten Papst warten musste. 27 lange Jahre sollte das dauern. Ich hatte mir vorgenommen, den nächsten Papst, wer immer es sei, um ein Gespräch zu bitten – nicht um eine huldvolle Audienz, sondern um ein echtes Gespräch.
An Joseph Ratzinger habe ich dabei sicher nicht gedacht, aber nun ist er Papst, und warum soll ich es bei ihm nicht versuchen? Eile tut freilich nicht not, er muss sich zuerst in sein Amt einleben. Und so warte ich nicht nur die pompösen Einsetzungsfeierlichkeiten ab, sondern lasse auch noch einige weitere Wochen verstreichen, überlege mir die Sache gut, denke viel über Form und Inhalt dieses Briefes nach und mache einen Entwurf. Am Freitag, dem 27. Mai, fahre ich nach einer erfolgreichen Kirchentagsveranstaltung der Stiftung Weltethos mit dem Deutschen Fußballbund zusammen mit Dr. ALFRED SENGLE , dem früheren DFB-Syndikus und rotarischen Freund, und Prof. KARL - JOSEF KUSCHEL von Hannover zurück nach Stuttgart. Im Speisewagen diskutieren wir eifrig meinen Briefentwurf. Beide sind der Meinung, ich könne Papst Ratzinger nicht einfach vor die Alternative stellen: Gespräch im Vatikan (bzw. Castel Gandolfo) oder überhaupt kein Gespräch; ich müsste ihn vielmehr etwa in Bayern oder sonstwo im Verborgenen treffen, das andere sei für den Papst eine Herausforderung und eine Zumutung. Ich aber bin der Meinung, entweder er sagt Ja, und dann kann das auch in Rom geschehen, oder er will es nicht, dann kommt es ohnehin auf den Ort nicht an.
Am 30. Mai 2005 schreibe ich, protokollarisch korrekt, »Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI., Palazzo Apostolico, V-00 120 Città del Vaticano«. Es folgt die persönliche Anrede in Handschrift: »Heiliger Vater, lieber Herr Ratzinger«. In diesem Fall ist es wichtig, den Brief in vollem Wortlaut wiederzugeben:
»Daß ich Sie auch mit Ihrem persönlichen Namen anzusprechen wage, wie ich es stets getan habe, seit wir uns vor fünf Jahrzehnten kennengelernt hatten, geschieht in der Hoffnung, daß trotz unserer zunehmend verschiedenen Wege doch das entscheidend Gemeinsame geblieben ist: die Gemeinsamkeit des Christseins, des priesterlichen Dienstes an derselben Kirche und des gegenseitigen menschlichen Respekts bei allen Kontroversen.
Was ich mir von unserem neuen Papst erhoffe, wissen Sie aus meinen öffentlichen Stellungnahmen. Darin habe ich auch betont, daß ich mich trotz aller Kritik nach Ihrer Wahl in meinem Urteil zurückhalten und Sie um ein Gespräch bitten würde. Dies tue ich jetzt mit diesem Brief, da für Sie die Zeit weit über einen Monat nach Ihrer Wahl doch etwas ruhiger geworden sein dürfte. Zugleich gratuliere ich Ihnen zum höchsten Dienstamt in unserer Kirche und wünsche Ihnen dafür von Herzen Gottes Segen.
Ihre und meine Position innerhalb der katholischen Kirche waren und sind in vieler Hinsicht verschieden. Um Ihnen unnötige und möglicherweise unangenehme Diskussionen zu ersparen, gestatte ich mir deshalb, meinen in verschiedenen Zeitungen vor dem Konklave publizierten Offenen Brief an die Kardinäle beizulegen, den Sie möglicherweise nicht kennen. Er stellt meine Sicht des künftig notwendigen Kurses in der Kirche umfassend dar. Doch möchte ich es ganz Ihnen überlassen, ob Sie in dem von mir gewünschten Gespräch darin genannte Einzelpunkte ansprechen wollen, bei denen man sich begründete Hoffnungen auf Gemeinsamkeit machen kann. Sie haben ja selber die Ökumene der christlichen Kirchen und den Dialog der Religionen als Schwerpunkte Ihres Pontifikats angekündigt und vor kurzem in Bari kraftvoll bestätigt.
Was also soll der Zweck dieses Gespräches sein? Sicher werde ich Sie nicht um die Rückgabe der Missio canonica bitten. Meine ich doch nach 1979 gezeigt zu haben, daß ich, notgedrungen, auch ohne diese eine Theologie treiben kann, die in und außerhalb unserer Kirchengemeinschaft als katholisch anerkannt war und ist, die ich aber niemandem als ›die‹ katholische aufgedrängt habe. Es ist Ihnen indes bewußt, daß ich dabei Anliegen vertrete, die von großen und gewichtigen Teilen unserer katholischen Kirche mitgetragen werden. Es geht mir also nicht um meine Person, sondern um die gemeinsame christliche Sache, und es wäre für viele in aller Welt ein unübersehbares Hoffnungszeichen Ihres Pontifikats, wenn es zu einem solchen Gespräch käme. Was zwischen Ihnen und mir im
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