Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ist ebenso ein Missbrauch, wie wenn man einen Schwerkranken zum Sterben drängt.
So bleibe ich denn bei meiner Überzeugung gerade als Christenmensch: Kein Mensch ist verpflichtet, auch Unerträgliches als gott-gegeben gott-ergeben zu ertragen! Das möge jeder Mensch für sich entscheiden, von keinem Priester, Arzt oder Richter daran gehindert. Keinesfalls sollte man in solchen Fällen weiterhin von »Selbstmord« sprechen; denn Mord ist Tötung aus niederer Motivation, aus Heimtücke und durch Gewalt gegen den Willen des Betroffenen. Stattdessen sollte man von »Suizid«, von »Selbsttötung« oder »Freitod« sprechen. Ich persönlich würde sogar lieber von »Hingabe des Lebens« reden, die, wenn die Zeit des Sterbens gekommen und der Mensch gut vorbereitet ist, auch durchaus in Gefasstheit und Ergebenheit, in verstehender Dankbarkeit und hoffender Erwartung geschehen kann: eine Rückgabe des Lebens in die Hände des Schöpfers . Und dieser ist nach christlicher Auffassung ein Gott der Barmherzigkeit und nicht ein grausamer Despot, der den Menschen möglichst lang in der Hölle seiner Schmerzen oder der reinen Hilflosigkeit sehen will. Was auch immer uneinsichtige Funktionäre propagieren: Rund drei Viertel der deutschen Bevölkerung zeigen für die (natürlich völlig freiwillige) »aktive« Sterbehilfe Sympathie. Nicht nur in den Niederlanden, in Belgien und in der Schweiz hat sich die Einstellung zur Sterbehilfe verändert, sondern auch in bestimmten Staaten der USA und in England. LINDA WOODHEAD , Professorin für Religionssoziologie an der Lancaster University: »Mehr als drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung von Großbritannien würden gerne einen Wechsel im Gesetz über ›assisted dying‹ sehen – und 56 % der Katholiken stimmen dem zu.« Dabei wird auf einen wichtigen Umstand hingewiesen: »In den letzten etwa 150 Jahren wurde der Tod durch Infektionen und Infektionskrankheiten weithin abgelöst durch den Tod aufgrund von chronischen Krankheiten – und sogar diese sind leichter behandelbar geworden.« 6 Ich will niemandem meine Auffassung von Sterbehilfe aufdrängen, mir aber auch von niemandem meine Freiheit zur Rückgabe des Lebens nehmen lassen.
»Doch noch leben wir« – mit allen irdischen Leiden und Freuden, mit Tagen der Trauer und Tagen des Festes.
Gedenk- und Danktage
Geburtstage sind Gedenktage, aber für mich auch immer besondere Danktage. Ich habe das Wort »Dank« immer sehr großgeschrieben und danke gerne. Bin ich mir doch stets bewusst geblieben, wie viel ich anderen zu verdanken habe.
Walter Jens, der Literaturwissenschaftler, Rhetoriker und Schriftsteller, und ich haben unsere runden Geburtstage stets im Abstand von wenigen Tagen gefeiert: er am 8. März, ich am 19. März. Er aber war mir, aufgrund seines Geburtsjahres 1923, stets fünf Jahre voraus. Da es in unserer kleinen Universitätsstadt Tübingen wenige schöne Festsäle gibt und der »Rittersaal« auf dem Schloss Hohentübingen von der damaligen Universitätsleitung leider zur »Glyptothek«, zu einer Sammlung von Gipsabgüssen antiker Statuen, umfunktioniert worden war, haben wir unsere runden Geburtstage zumeist im Schloss Bebenhausen bei Tübingen gefeiert – jahrhundertelang ein Zisterzienserkloster, dann Jagdschloss der württembergischen Könige und schließlich Museum. Der dortige »grüne Saal« ist mit maximal 80 Plätzen für ein festliches Abendessen mit Unterhaltung gerade groß genug. So feierte denn im Jahr 1998 Jens den 75. und ich den 70. Geburtstag.
Aber jetzt, zehn Jahre später, ist alles anders. An eine Geburtsfeier für den 85-jährigen Walter Jens ist angesichts seiner geistigen Umnachtung nicht zu denken. Ich muss mich, wie berichtet, mit einem Geburtstagsbesuch bei ihm begnügen. Wie es wohl bei mir fünf Jahre später aussehen wird?, denke ich im Stillen.
Ich habe für den 19. März 2008, meinen 80. Geburtstag, wie immer meine besten Freunde, Kollegen und alle meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingeladen. Dieses Jahr für einen »frohgemuten Schweizer Abend« : verstanden nicht als vaterländischen oder folkloristischen Anlass, sondern als Besinnung auf meine Wurzeln. Angedeutet habe ich dies schon auf der Einladungskarte: Sie zeigt die schöne Madonna mit Kind des Surseer Bildhauers Hans Wilhelm Tüfel um das Jahr 1650, die sich an meinem Elternhaus direkt an der Außenwand meines Studierzimmers befindet.
Es ist nicht einfach, für diesen Abend die geeignete Festmusik zu
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