Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
seiner menschlichen Nähe und seinem unfassbaren Bezug zum ›Vater‹. Das ist das Wunderbare, das Tiefe, das den Menschen in seinem innersten Wesenskern herausfordert und ihn heilt. Und dies, Herr Professor, haben Sie unserer Zeit mit ihren Ängsten und Hoffnungen geschenkt. Kein Kardinalspurpur käme dem gleich.«
Bei so viel Lob und Anerkennung tue ich gut daran, mich immer wieder an das Wort Jesu im Rangstreit der Jünger zu erinnern: »Wenn jemand der Erste sein will, dann soll er der Diener aller sein« (vgl. Mk 9,33 – 35). Und ein Diener aller , das wollte ich in der Tat sein. Einerseits gewiss ein Theologe, der höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt; der die historisch-kritische Bibelforschung konsequent und durchgängig zur Grundlegung der christlichen Dogmatik macht; der Philosophie und Naturwissenschaft ebenso ernst nimmt wie die Religions-, Kirchen- und Theologiegeschichte und der sich immer wieder neu mit dem Wissen unserer Zeit auseinandersetzt. Andererseits jedoch, wie es zu meinem 80. Geburtstag keiner besser formuliert hat als JOHANNES RÖSER , Chefredakteur von »Christ in der Gegenwart«: Einer, der »ein Theologe der einfachen Leute geblieben ist, ein Theologe des – gebildeten – Volkes; für jene, die ihre Glaubenszweifel haben, die manchmal nicht mehr glauben können, obwohl sie vielleicht gerne glauben würden … ein Theologe des Volkes und für das Volk.«
Das Œuvre
Das hätte ich mir nun doch nie gedacht, dass ich mich einmal über die große Zahl meiner Bücher ärgern könnte, natürlich nicht im Ernst und erst, als sich ein ernsthaftes Platzproblem stellt. Wie die meisten Autoren habe ich schon als junger Professor meine Bücher mit dankbarer Freude in mein Bücherregal gestellt, auch um sie immer wieder leicht konsultieren zu können; war mir doch schon immer an Kohärenz in meinem Denken und Publizieren gelegen. Von Anfang an folgten viele Übersetzungen, und ich ordnete sie jedem meiner Bücher bei, chronologisch nach dem ursprünglichen Erscheinungsjahr. Dasselbe tat ich in meinem Schweizer Seehaus, wo ich ja ständig weiterarbeite. So ging es lange Zeit ohne Platznot, aber mit der Zeit wurde ich sozusagen ein »Opfer des Erfolgs«: immer mehr Bücher, immer mehr Ausgaben. Will ich Platz schaffen und gleichzeitig an meiner Systematik festhalten, muss ich, was ich höchst ungern tue, andere Literatur aussondern, beginnend am besten mit mehrbändigen Geschichten des Papsttums, über das ich ja nun wahrhaftig genug weiß. Die 16 Bände der »Geschichte der Päpste« von Ludwig Freiherr von Pastor, jahrelange Lectio continua beim Abendessen im römischen Collegium Germanicum, sind die ersten, die weichen müssen.
Doch schreibe ich in meinem Autorenleben nicht einfach ein Buch nach dem anderen, wie dies ein so berühmter Schriftsteller wie PHILIP ROTH beschrieben hat; er feiert im selben März 2013 seinen 80. Geburtstag, wenn ich meinen 85. begehe. Fast jedes Jahr hat er einen Roman geschrieben, seit 1959 ein Œuvre von 31 Bänden, auf die er jeden Morgen mit Stolz schaue. Aber im Jahr 2012 erklärt er: »The struggle with writing is over.« Mein Kampf jedoch ist noch keineswegs vorbei, und ich höre mit dem Schreiben nicht deshalb auf, weil ich nicht mehr so gut schreibe wie früher. Sondern weil ich alles Wesentliche gesagt habe, wozu ich mich sozusagen berufen fühlte – aufgrund der Herausforderungen der Zeit.
Für mich persönlich war die »Vox Temporis« die »Vox Dei«, die Stimme der Zeit die Stimme Gottes. Ungezwungen und unbeabsichtigt hat sich so aus der Geschichte, aus den Zeitereignissen und ihren Herausforderungen, eine systematische Ordnung meiner wissenschaftlichen Werke ergeben: in den 1950er-Jahren zur christlichen Existenz. In den 1960er-Jahren zu Kirche, Konzil, Wiedervereinigung, Unfehlbarkeit. In den 1970er-Jahren zu den Grundfragen des Christentums: Christsein, Existenz Gottes, ewiges Leben. In den 1980er-Jahren zum Dialog der Weltreligionen und zur Weltliteratur. In den 1990er-Jahren zum Projekt Weltethos, zu Weltpolitik und Weltwirtschaft. In den 2000er-Jahren Synthesen (»Credo«, »Was ich glaube«) und historisch-systematische Bände zum Christentum, Judentum und Islam sowie zwei Bände autobiographischer Erinnerungen.
Aber, so provoziert mich einmal der kecke Interviewer einer großen deutschen Illustrierten 7 : »Sie haben über sechzig Bücher geschrieben, über dreißigtausend Seiten … Sie haben sich für Ihren Glauben
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