Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
sollen für eine ökumenische Zukunft der christlichen Kirchen gewonnen werden. So machen denn diese Gegenentwürfe für eine andere Theologie die Hoffnung auf eine christlichere Kirche sichtbar.
Beim Festakt zu meinem 80. Geburtstag an der Universität Tübingen stelle ich die Frage: Wenn es hier auf Erden mit meiner Person nicht weitergeht und mit meinem Œuvre in der Geschichte nur bedingt weitergeht, was soll dann weitergehen? Ich sage es mit einem schlichten Wort, es ist schwer in eine andere Sprache zu übersetzen, ist sehr allgemein, umfasst aber alles: die Sache soll weitergehen. Die Sache, »the cause«, die Anliegen, für die ich mich ein Leben lang eingesetzt habe: Erneuerung und Einheit der christlichen Kirchen, Frieden unter den Religionen, echte Gemeinschaft der Nationen. Ich belasse es bei diesem Verweis. Ich habe immer wieder darüber gesprochen und geschrieben.
Wie aber wird die Sache nach mir weitergehen? Ich beantworte die Frage pragmatisch: Ich bin in der glücklichen Lage, einer Stiftung mit vielen Freunden vorzustehen, die meine Sache weitertragen, die sich meinem geistigen Erbe verpflichtet wissen und dieses, auch wenn ich einmal nicht mehr bin, am Leben erhalten und weiterentwickeln werden. Es ist eine kleine, aber effiziente Stiftung mit zukunftsweisender Programmatik: Sie erfreut sich weit über den Raum von Universität, Theologie und Religion hinaus wachsender Akzeptanz. Sie verfügt über ein breitgefächertes operatives Profil und hat 2013 eine 18-jährige Erfolgsgeschichte hinter sich, die ihresgleichen sucht. Darüber bin ich froh. Dieser Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung werde ich mein materielles und geistiges Eigentum vermachen.
Aus vielen schriftlichen wie mündlichen Zeugnissen weiß ich, dass ich mit meinen Büchern manchen Menschen einen neuen Zugang zum Glauben eröffnen konnte. Viele sahen sich durch mich ermutigt, in der katholischen Kirche zu bleiben oder sich ihr wieder zuzuwenden. Während ich von zahllosen Seelsorgern und Religionslehrern immer wieder Zeugnisse der Sympathie und Ermutigung erfuhr, habe ich von Vertretern der Hierarchie kaum je ein öffentliches Wort des Dankes erfahren.
Umso mehr wurde ich von staatlichen Organen geehrt, was mir in meiner öffentlichen Tätigkeit eine große Unterstützung bedeutete. An dieser Stelle meines letzten Kapitels XII bilanziere ich dankbar: Ich erhielt das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse durch Bundespräsident RICHARD VON WEIZSÄCKER (1994), das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern durch Bundespräsident JOHANNES RAU (2003) sowie die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg durch Ministerpräsident ERWIN TEUFEL (2005). Nicht weniger Freude bereiteten mir die höchst verschiedenartigen Preise aus der Zivilgesellschaft: der Theodor-Heuss-Preis in Stuttgart (1998); der Preis der deutschen Luther-Städte »Das unerschrockene Wort« (1999), der mir von den zwölf Oberbürgermeistern und Bürgermeistern in der Wartburg verliehen wurde; der Karl-Barth-Preis der Evangelischen Kirche der Union in Berlin (1992); der Ethikpreis des Deutschen Druiden-Ordens in Nürtingen (2004); der Kulturpreis der Deutschen Freimaurer in Köln (2007); der Steiger Award für Toleranz in Bochum (2008); die Otto-Hahn-Friedensmedaille in Berlin (2008) und der Internationale Nonino-Kulturpreis in Udine/Italien (2012). Die Liste ist nicht vollständig, und im Übrigen schlummern die schönen staatlichen Orden in meinem Schrank, denn mein eidgenössisches Selbstverständnis hält mich davon ab, sie zur Schau zu tragen. Aber für anderes bin ich noch viel dankbarer:
Dankbar für erlebte Menschlichkeit
Eine Alterserfahrung eigener Art: So viele Menschen, mit denen man früher einmal persönliche Beziehungen unterhielt, gibt es nicht mehr. Immer öfter ertappe ich mich bei dem Gedanken: Lebt er, lebt sie noch? Und das alte Volkslied klingt mir in den Ohren:
»Die alten Straßen noch, die alten Gassen noch,
die alten Freunde aber sind nicht mehr …«
Blicke ich auf mein Leben zurück, so werde ich überwältigt von Gefühlen der Dankbarkeit. Und zugleich vom Gefühl der Unfähigkeit, meinen Dank gebührend zum Ausdruck zu bringen. Ich danke nicht nur für die zahllosen wissenschaftlichen Einsichten und Anregungen, die ich durch all die Jahre empfangen habe, sondern auch für all die gelebte und erlebte Menschlichkeit, die ich in der Nähe und in der Ferne erfahren durfte. Und nicht
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