Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
die Finger wundgeschrieben – allerdings umsonst … Ihren Kampf haben Sie verloren. Ihr Gegenspieler Ratzinger … ist Papst geworden, er geht in die Geschichte ein. Sie werden eine Fußnote sein.« – »Meinen Sie?«, entgegne ich. »Wie ein Mensch in die Geschichte eingeht, entscheidet die Geschichte selbst. Nicht das Amt ist dafür wichtig, nicht die Macht. Ein Beispiel: Thomas von Aquin – ich will mich nicht auf seine Höhe stellen – hat freiwillig auf jedes wichtige Amt in der Kirche verzichtet. Er hätte Erzbischof von Neapel oder Kurienkardinal werden können. Papst Innozenz III., sein hochgebildeter Zeitgenosse, war der mächtigste aller Päpste – Kennen Sie Innozenz III.? Nein? Dieser einst so mächtige Papst ist heute eine Fußnote, allenfalls Historikern noch wichtig. Thomas von Aquin aber wird noch heute ständig als Autorität zitiert. Nein, ich fühle mich nicht als Verlierer …« In der Tat: Wer eine Schlacht gewonnen hat, hat den Krieg noch längst nicht gewonnen. »Ich glaube, dass die gegenwärtige Politik des Vatikans sich schon jetzt als Fiasko offenbart. Der Versuch, die Kirche wieder zurück ins Mittelalter zu zwingen, leert sie. Man kann die alte Zeit nicht zurückholen!« Damals konnte freilich niemand ahnen, unter welch wenig erfreulichen Umständen Papst Ratzinger zurücktreten wird.
Er, Joseph Ratzinger, mein früherer Tübinger Fakultätskollege, hat als Kardinal öfters bedauert, dass er – weil »im Dienst der Kirche«! – kein großes wissenschaftliches Œuvre von »Weltruf« auszuweisen habe. Das ist richtig, und als Papst vernachlässigt er jetzt seine Leitungsaufgaben (»non governa«), um dies nachzuholen. Er verfasst Enzykliken (oder lässt sie verfassen), was zu seinen päpstlichen Aufgaben gehört. Aber vor allem arbeitet er an einem dreibändigen Werk über Jesus Christus, das er schon in Tübingen und Regensburg hätte schreiben können und was bestimmt nicht zu den Aufgaben des Leiters einer universalen Kirchengemeinschaft von über einer Milliarde Katholiken gehört.
Was von unserem Œuvre bleibt, was vergessen wird, was Bestand hat oder was vielleicht erst viel später wieder Bedeutung erhält, darüber befindet nicht der Autor, darüber urteilt die Geschichte. Und deshalb habe ich auch die Bücher, die ich geschrieben habe, nie gezählt. Ich habe sie gewichtet, nach geistigem Aufwand, nach Reichweite und Tiefgang der Problematik, nach Wirkung und Auswirkung. Aber ich habe mich stets geweigert, die Frage zu beantworten, welches denn mein wichtigstes Buch sei. Das weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen. Das kann posthum – wenn alle Urteile über Orthodoxie und Katholizität, alle Konkurrenz, Ressentiments, Rivalität und Neid endgültig der Vergangenheit angehören werden – ganz anders aussehen als zu meinen Lebzeiten. Und erst recht ganz anders nach ein paar Jahren, wenn die Situation von Welt, Kirche und Theologie wieder einmal völlig anders sein wird. Was bleibt: Vielleicht wird man sich dann an schon längst Gedachtes und Vorgeschlagenes, Gewünschtes und Gefordertes erinnern. Wer weiß?
Mein Œuvre hatte fast immer mit Konflikten zu tun. Deshalb war es für mich tröstlich und ermutigend, die Theologiegeschichte auch als Konfliktgeschichte zu verstehen, wie das HERMANN HÄRING und KARL-JOSEF KUSCHEL mit ihren Mitarbeitern in der mir schon zum 60. Geburtstag gewidmeten Festschrift getan haben: » Gegenentwürfe . 24 Lebensläufe für eine andere Theologie« (München 1988). Mehr als die Ketzergeschichte, von der ich in Kapitel I dieses Buches gesprochen habe, wird in den Lebensläufen großer Figuren der Theologie-, Kirchen- oder Geistesgeschichte eine Ermutigung sichtbar. Hoch spannend werden da viele der klassischen Streitfälle der Kirchengeschichte von bekannten Theologen und Geistesgrößen unserer Zeit beschrieben: der Streit um die Auslegung der Schrift von Origenes und Luther bis Lagrange und Bultmann; der Konflikt mit der Naturwissenschaft von Pascal bis Teilhard; das Ringen um eine Reform der Kirche von Jan Hus und Erasmus von Rotterdam bis Newman und Kierkegaard; die »gefährliche« Rolle der Mystik in der Kirche bei Marguerite Porète und Meister Eckhart; der Streit um den Wahrheitsanspruch anderer Religionen bei Christian Wolff; die kritische Rolle der Literatur für Kirche und Theologie, ob bei Lessing oder Böll. Ein Dialog mit der Geschichte wird hier versucht: Uneingelöste Hoffnungen und verdrängte Perspektiven
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