Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Orthopäden und Radiologen hat ergeben: Ich leide unter einer Verengung der Rückenmarksnervenbahn (Spinalkanal- und Foramenstenose) beim 3./4. und 4./5. Lendenwirbel, die den Schmerz vom Kreuz her bis in die Fersen ausstrahlen lassen kann. So musste ich denn im Januar 2012 auf einer Flugreise von Stuttgart nach Udine auf dem weitläufigen Umsteigeflughafen München das erste Mal um eine Transporthilfe bitten. Ich mache zwar täglich physiotherapeutische Übungen, schwimme noch jeden Tag, und es geht mir wieder besser. Aber was, wenn die Nervenschmerzen im verengten Spinalkanal noch virulenter werden und mich von großen Reisen abhalten? Was dann?
Ich lobe mir meine Hände : Sie können streicheln und liebkosen, sie können aber auch zugreifen und hart anpacken. Tausendfach sind die Funktionen, welche die Hände wie selbstverständlich erfüllen können. Sensibler als jeder hochtechnische Apparat lassen sie sich für all das gebrauchen, was eben die Faust oder aber »Fingerspitzengefühl« erfordert. Und wenn ich daran denke, wie viele Millionen von Wörtern sie im Laufe meines Lebens geschrieben haben, von denen nur ein Bruchteil gedruckt ist, kann ich meine Hände nur loben.
Aber jetzt sind meine Finger alt geworden. Sie versagen mir die schönen Bögen in meiner Schrift. Meine Schrift ist kleiner geworden; Mikrographie nennen dies die Ärzte. Ich habe selber manchmal Mühe zu lesen, was ich geschrieben habe. Die Röntgenbilder manifestieren eine zunehmende Arthrose. Und am 1. Dezember 2010 operiert mir der Chef der Tübinger Handchirurgie den Mittelfinger, in dem er eine Zyste entfernt. Wegen einer darauffolgenden Infektion aber bin ich mehrere Wochen unfähig zu schreiben. Die Behandlung meiner arthrotischen Finger (familiäre Polyarthrose) durch den Chefarzt der Rheumatologie im schweizerischen Bad Ragaz kann zwar die Situation durch Einspritzen von flüssiger Knorpelsubstanz leicht verbessern, mir Schmerzen ersparen und die weitere Versteifung aufhalten, aber den fehlenden festen Gelenkknorpel selbstverständlich nicht ersetzen. Ich, der ich alle meine Bücher von Hand geschrieben habe, mache täglich die empfohlenen Übungen, aber ich sehe den Tag kommen, da die Hand des Schriftstellers nicht mehr schreiben kann. Was dann?
Und ich lobe mir meine Ohren . Diese kunstvollen kleinen Organe haben mir unermessliche Dienste geleistet durch all die Jahrzehnte und unendlich viel Freude bereitet, besonders durch die Vermittlung klassischer Musik. Aber ich habe schon berichtet, wie sich eines Tages ein Hörsturz einstellte, der mich auf dem rechten Ohr nur noch 15 Prozent hören lässt. »Wenn wir nicht erklären können, woher die Störung kommt«, so sagt mir lächelnd der Chef der Tübinger HNO-Klinik, »reden wir von Hörsturz.« Ich aber habe Sorge, dass dies auch mit dem linken Ohr passieren könnte und ich dabei taub werde. Das Schicksal Beethovens schreckt mich. Was dann?
Und ich lobe mir meine Augen : Sie haben unendlich viel ausgehalten, seit ich in meiner Jugend Bücher mit der Taschenlampe unter der Bettdecke las. Ja, sie haben nach dem Wort von Gottfried Keller tatsächlich in aller Welt »getrunken, was die Wimper hält«. Millionen große und kleine Bilder haben sich in meinem Gehirn abgebildet, schreckliche und schöne, alles, was eben die sichtbare Welt ausmacht und oft in Träumen in erstaunlichen neuen Kombinationen wiederkehrend. Als die Augen schwächer wurden, haben mir doch die Brillen mit wachsender Stärke immer wieder geholfen, klar zu sehen. Aber nun lasse ich am 8. September 2011 und wieder am 21. Dezember vom Chef der Augenklinik in Tübingen erneut die Augen untersuchen. Der Befund ist eindeutig: An beiden Augen eine unaufhaltsame altersbedingte Makula-Degeneration (AMD)! Mit den Medikamenten, die ich seither täglich schlucke, könne ich das Ganze um zwei Jahre aufhalten. So solle ich mich denn beeilen, diesen meinen dritten Memoirenband abzuschließen? Ja, denn die Zeit werde kommen, da ich nicht mehr lesen kann. Ein Gelehrter, der nicht mehr schreiben und lesen kann? Was dann?
Ich frage mich natürlich, ob da nicht einiges zusammenhängt, ob meine kleiner werdende Schrift und, wenn ich nicht bewusst ausschreite, meine kürzeren Schritte nicht vom Hirn gesteuert sein könnten. Mein Hausarzt meldet mich beim Neurologen an, und dieser lässt nach eingehender Untersuchung zur Kontrolle eine Kernspin-Aufnahme machen. Die Diagnose ist eindeutig und schockierend: Es handelt sich um die
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