Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ersten Anzeichen der Parkinsonkrankheit mit möglichen Auswirkungen auf Bewegungsapparat und Stimmbänder, bisher allerdings ohne Schüttellähmung. Ab jetzt werde ich zur Therapie mein Leben lang täglich mehrfach Arzneimittel nehmen müssen, um den Mangel am Botenstoff Dopamin im Hirnbereich der »Substantia nigra«, wo Nervenzellen absterben, auszugleichen. Das bedeutet auch für meine Umgebung einen kleinen Schock. Wir schreiben den 6. Juli 2012: Wie wird das alles weitergehen? Werde ich bald nur noch der Schatten meiner selbst sein?
Menschsein wird in jeder Lebensphase anders erlebt, im Alter zunehmend als Gebrechlichsein. Ich befleißige mich jetzt bewusst einer Disziplin des Alters . Und das heißt vor allem: Ich reduziere mein bisher stets hohes Lebenstempo. Nun bedeutet die Parkinsonkrankheit ohnehin eine Verlangsamung des gesamten kinetischen Systems. Diese können die bisher gefundenen Medikamente zwar verzögern, aber nicht heilen.
Und so schlucke ich denn neuerdings zu Hause wie auf Reisen nach einem genauen Plan jeden Tag die verschiedenen Pillen. Und ich, der ich mich früher anlässlich eines Besuchs bei den Dominikanern in Paris innerlich darüber mokiert hatte, weil da ein jeder auf seinem Essplatz einige Fläschchen aufgestellt hatte, werde jetzt dafür »bestraft«, indem ich selber sechsmal täglich verschiedenartige Tabletten zu mir nehmen muss. Das heißt nun freilich auch: Medizin und Pharmazie verdanke ich praktisch eine weitere künstliche Lebensperiode. Liegt es also nicht auch in meiner ureigenen Verantwortung, wie lange ich zum Weiterleben diese Medikamente zu mir nehme?
Nach Bestätigung der neuesten Diagnose nehme ich Kontakt mit meinem Anwalt und Notar auf: Ich möchte das schon lange vorbereitete Testament jetzt definitiv abfassen und notariell beglaubigen lassen. Die Stiftung Weltethos Tübingen wird meine Alleinerbin sein, meine engsten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden mit einem Legat bedacht. Am 24. Juli 2012 wird es samt General- und Vorsorgevollmacht beurkundet und Dr. Stephan Schlensog als Testamentsvollstrecker eingesetzt. Denn für mich sind alle diese Vorgänge mahnende Vorboten des Todes.
Rechtzeitig zurücktreten
Nun hatte ich schon ein Jahr vor diesen Beschwerden den Entschluss gefasst, nach dem 85. Geburtstag am 19. März 2013 von meinen Funktionen als Präsident dreier Stiftungen zurückzutreten. Ich habe ja nun meine Pflicht im Übermaß erfüllt und in der letzten Zeit auch kompetente Nachfolger gefunden, denen ich alles leichten Herzens anvertrauen kann:
– Dr. ERWIN KOLLER : pensionierter Schweizer Fernsehredakteur und Inspirator der Reihe »Sternstunde«; mit mir seit vielen Jahren in Freundschaft verbunden und für Kirchenreform engagiert, hat er sich seit Jahren schon als Vizepräsident der Herbert-Haag-Stiftung »Für Freiheit in der Kirche« bewährt und für die Präsidentschaft profiliert. Seinen öffentlichen Amtsantritt hat er anlässlich der feierlichen Verleihung des Herbert-Haag-Preises an die amerikanische »Leadership Conference of Women Religious« in Luzern am 14. April 2013 (Vgl. Epilog: »Papst Franziskus – ein Paradoxon?«).
– Prof. Dr. WALTER KIRCHSCHLÄGER: Theologieprofessor und Gründungsrektor der Universität Luzern; einer der wenigen Neutestamentler, die mit Intelligenz und Mut aus der ursprünglichen christlichen Botschaft die Konsequenzen zu ziehen wagen für die Kirche und die Kirchenverfassung der Gegenwart. So erweist er sich als kongenialer Sohn seines Vaters, Dr. Rudolf Kirchschläger, des hoch angesehenen österreichischen Außenministers und Bundespräsidenten. Er wird mein Nachfolger in der Schweizer Stiftung Weltethos. Sein Amt tritt er an in der Universität Luzern am 8. April 2013 bei der Sitzung des Stiftungsrats, der zu meiner großen Freude seine nächste Sitzung als Zeichen bleibender Verbundenheit mit dem Gründerpräsidenten nochmals in meinem Seehaus abhalten möchte.
– EBERHARD STILZ: langjähriger Präsident des Oberlandesgerichts in Stuttgart und bis heute Präsident des Staatsgerichtshofs von Baden-Württemberg. Es ist eine große Erleichterung für mich, dass die deutsche Stiftung Weltethos – nach dem unerwarteten Rückzug von Horst Köhler (darüber mehr im Epilog) – in ihm einen Präsidenten gefunden hat, der durch seine Herkunft, seinen Werdegang, seine politische, soziale, humanitäre und richterliche Tätigkeit und sein internationales Engagement hervorragend
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