Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Jahr 1968 abbricht – warum?
»Da kommen Sie in Teufels Küche«, antwortet der engagierte 68er. 9 Und man kann nur Vermutungen anstellen, worüber der damals 30-jährige Suhrkamp-Lektor, Mitbegründer des Verlags der Autoren und spätere Dozent für Deutsche Literatur an der Frankfurter Universität hätte schreiben müssen. Mich hätten keine Intima interessiert, wohl aber ein eventueller Gesinnungs- und Verhaltenswandel des Autors. Damit wäre er aber offenkundig »in Teufels Küche«, das heißt in allergrößte Schwierigkeiten geraten. Dann eben lieber schweigen. So haben es ja schließlich viele bekannte 68er in Politik, Wirtschaft und Literatur gehalten – nicht ganz unähnlich dem Verhalten ihrer Väter und Großväter bezüglich einer anderen Zeit.
Nicht so freilich der Literaturnobelpreisträger GÜNTER GRASS . In seinem vom Revolutionsjahr 1848 bis in die Gegenwart ausgreifenden Roman »Ein weites Feld« (1995) versucht er den Umbruch von Mauerfall und Wiedervereinigung 1989 zu deuten. Aber sein Protagonist »Fonty«, der sich an das Alter Ego von Theodor Fontane anlehnt, hinterlässt einen eher zwiespältigen Eindruck, jedenfalls keine überzeugende ehrliche Rechenschaftsablage. Andererseits hatte Grass 1969 seinen damaligen Parteigenossen Professor KARL SCHILLER , nach Ludwig Erhard der bedeutendste Wirtschaftspolitiker der Nachkriegszeit, öffentlich aufgefordert, sich endlich zu seiner zeitweiligen Mitgliedschaft bei der SA zu bekennen. Doch 2006 sieht sich Grass seinerseits gezwungen, öffentlich einzugestehen, dass er Mitglied der Waffen-SS gewesen war und am Russlandfeldzug teilgenommen hatte. Mit diesem Geständnis gerät er selbst in »Teufels Küche« und muss zusehen, wie seine Rolle als moralische Instanz im Nachkriegsdeutschland erschüttert wird.
Unmittelbar nach der großen politischen Wende Anfang 1990 führe ich ein Gespräch mit Professor Karl Schiller über die Neuorientierung der Wirtschaftspolitik und die Gefahren bei Einführung der Deutschen Mark in der früheren DDR. Bei dieser Gelegenheit merke ich an, er könne doch jetzt als Emeritus eine hochinteressante Autobiographie schreiben, und wenn schon nicht über sein ganzes Leben, so doch über einige »Schlüsselszenen« seiner politischen Karriere. Das nimmt er so ernst, dass er mich wenige Tage später anruft und nochmals wissen will, welchen Begriff ich genannt hatte für eine mögliche Autobiographie. Ich sage: »Schlüsselszenen«. Aber Karl Schiller stirbt 1994, ohne seine »Schlüsselszenen« veröffentlicht zu haben. Wie so manche »Linke« wollte auch er wohl vermeiden, ebenfalls in »Teufels Küche« zu geraten.
Aber es gibt auch Beispiele bei den »Rechten« für das signifikante Abbrechen der eigenen Biographie. An den berühmtesten Fall habe ich schon am Ende meines zweiten Bandes erinnert: an JOSEPH RATZINGER. Er bricht seine Autobiographie schon 1977 mit seinem Eintritt in die Hierarchie ab und entschuldigt sich allzu vordergründig mit der Bärenlegende des heiligen Korbinian. Hat auch er Angst vor des »Teufels Küche«? Dabei hatte Ratzinger in seinen 24 Jahren als Großinquisitor ständig berufsmäßig mit dem Teufel zu tun, der in der römisch-katholischen Kirche vor allem hinter Sexualdelikten des Klerus und allerlei Häresien vermutet wird. Gerade unter dem Regime Wojtyła/Ratzinger haben professionelle Teufelsaustreiber (Exorzisten) wieder Konjunktur. Der Teufel wirkt nach Meinung der Inquisitoren ja nicht nur bei Hexen, sondern auch bei Theologen und Häretikern, die man heutzutage freilich nicht mehr wie in früheren Zeiten foltern und verbrennen kann. Die Opfer der Inquisition waren einstmals in die Tausende gegangen, und einige der in unseren Tagen Verfolgten habe ich in Kapitel I angeführt. Kann man so nicht verstehen, dass viele Menschen die Inquisition selber als »des Teufels« empfunden haben?
Aber aufgeklärte Theologen und Zeitgenossen glauben heute nicht mehr wie im Mittelalter und in der Reformationszeit an den Satan und sein Heer vernunftbegabter individueller böser Geistwesen, die angeblich vom Menschen Besitz ergreifen. Ideen, die in der Zeit der persischen Oberhoheit (539 – 331) in die Hebräische Bibel und später auch ins Neue Testament eingedrungen waren. Diese Vorstellung steht auch hinter den mittelalterlichen Bildern einer Teufelsküche, einer Art Hexenküche, wo die Sünder im höllischen Feuer gebraten werden. »In Teufels Küche kommen« heißt also ursprünglich
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