Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
für diese Aufgabe qualifiziert ist. Nicht nur in Sachsen hat er beim Aufbau eines neuen Rechtssystems maßgeblich mitgewirkt, sondern auch in Georgien und in China war er ähnlicher Weise beratend tätig. Die Amtsübergabe erfolgt im Rahmen einer Festveranstaltung an der Universität Tübingen am 22. April 2013 (vgl. Epilog: »Mein Weltethos-Vermächtnis«).
Allen drei Stiftungen bleibe ich als Ehrenpräsident verbunden. Doch fühle ich mich richtiggehend erleichtert, dass ich mich nicht mehr um das Tagesgeschäft kümmern muss, keine Präsenzpflicht bei Vorstandssitzungen habe und vor allem befreit bin von der oft drückenden Verantwortung für alles und jedes, was in der betreffenden Stiftung läuft. Immer drängender aber stellt sich mir jetzt nach dem rechtzeitigen Zurücktreten von meinen Ehrenämtern eine grundsätzliche Frage:
Wie lange leben?
Am Sonntag, dem 9. Juni 2013, ruft mich um 22.20 Uhr INGE JENS an: »Du sollst es als erster wissen, Walter ist vor einer Stunde friedlich verstorben.« Bei aller Trauer empfinden wir beide auch Erleichterung: Nach langen Jahren der Demenz hat er sein ewiges Ziel erreicht. In allen Zeitungen erscheinen ausführliche Gedenkartikel. Am 17. Juni findet in der voll besetzten Tübinger Stiftskirche der Trauergottesdienst statt. Ich werde von Inge Jens gebeten, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Stiftskirchenpfarrer KARL-THEODOR KLEINKNECHT hält als Einziger einen bewegenden Nachruf auf den großen Intellektuellen des Nachkriegsdeutschland, in dem er die verschiedenen Dimensionen seines reichen Lebens und Wirkens lebendig herausarbeitet. Im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht die Aufführung von Mozarts Requiem, nur von wenigen Bibeltexten, Gebeten und Texten des Verstorbenen unterbrochen. Denn das letzte öffentliche Auftreten von Walter und Inge war eine von ihm kommentierte Aufführung dieses Requiems gewesen. Ich verlasse die Kirche am Arm von MARGIT HESPELER , die ihren »Herrn Jens« in all den Jahren seiner Krankheit mit seltener Hingabe gepflegt hatte. Oft nahm sie ihn mit auf ihren Bauernhof bei Tübingen, wo er eine kindliche Freude an Kindern und Tieren zeigte. Zu Recht hatte Frau Hespeler beim Gottesdienst den Ehrenplatz rechts von Inge. Der Ehrenbürger Walter Jens wird in einem Ehrengrab der Stadt auf dem Stadtfriedhof beerdigt. Mich bewegt natürlich der Gedanke, dass mein Grab neben Walter und Inge sein wird. Wer von uns wird wohl der Nächste sein? So wird mir nach dem Tod meines Freundes erneut die Frage nach dem Ende meines eigenen Lebens bewusst.
Ich bin mir wohl bewusst, dass nicht nur meine äußeren, sondern auch meine inneren Organe altern. Magen- und Darmtrakt verlieren an Elastizität; die für Männer übliche Prostata-Operation habe ich bereits hinter mir. Nieren und Leber funktionieren noch gut, solange sie nicht durch äußere Faktoren gestört werden. Beim Schwimmen freilich zeigt mir meine Lunge , dass sie mir nicht mehr drei zusammenhängende Züge unter Wasser vor dem Luftholen gestattet. Beinahe ein Wunder aber ist es für mich, dass mein Herz noch nach 85 Jahren trotz allen Herzeleids und aller Herzensfreude jede Sekunde in Treue schlägt und der Puls sich nach Anstrengungen immer wieder rasch normalisiert.
Natürlich frage auch ich mich, wie lange das noch so gut weitergehen wird. Ob ich vielleicht darauf warten soll, bis das Herz mitten im Schlaf einfach zu schlagen aufhört, wie es kürzlich einem rund zwei Jahrzehnte jüngeren Freund, Dr. HANS SAUR , dem älteren Sohn von Marianne, passiert ist? Oder soll ich mich, wie Graf KARL KONRAD VON DER GROEBEN , unser Weltethos-Stifter, mitten im See von einem Herzversagen überraschen lassen? Seit meine Schwester Rita, vier Jahre jünger als ich, im kalten See einen Schwächeanfall erlitt und knapp am Tod vorbeikam, schwimme ich zur Sicherheit mehr dem Ufer entlang, neuerdings übrigens mit eingeschliffener Sonnenbrille, sodass ich unsere Bäume, die Wasservögel, das Schilf, die Berge und die Wolken besser beobachten kann. Leben mit der Natur bis ans Ende. Und mich an allem freuen, und auch bei trübem Wetter möglichst keinen Trübsinn aufkommen lassen.
Dass mein Gehirn , das bekanntlich nie schläft, noch immer perfekt funktioniert, ist alles andere als selbstverständlich. Man hat festgestellt, dass mit 90 Jahren 40 bis 50 Prozent der Männer an Demenz leiden. Und immer fährt es mir durch die Knochen, wenn ich über eine von mir geschätzte Person höre: »Sie/er ist jetzt
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