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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
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fixieren.
    Faktisch stellte und stellt FRANZ VON ASSISI die Alternative zum römischen System dar. Was wäre geschehen, wenn schon Innozenz und die Seinen das Evangelium wieder neu ernst genommen hätten? Auch wenn nicht wörtlich, sondern geistlich verstanden, so bedeuteten und bedeuten seine evangelischen Forderungen doch eine gewaltige Infragestellung des römischen Systems, dieses zentralistischen, juridisierten, politisierten und klerikalisierten Machtgefüges, das sich in Rom seit dem 11.   Jahrhundert der Sache Christi bemächtigt hatte.
    INNOZENZ III . wäre wohl der einzige Papst gewesen, der aufgrund außergewöhnlicher Qualitäten und Machtbefugnisse der Kirche mit einem Konzil einen grundsätzlich anderen Weg hätte weisen können; das hätte dem Papsttum im 14./15.   Jahrhundert Aufspaltung und Exil und der Kirche im 16.   Jahrhundert die protestantische Reform ersparen können. Freilich hätte dies dann schon im 13.   Jahrhundert für die katholische Kirche einen Paradigmenwechsel zur Folge gehabt, jedoch einen, der die Kirche nicht gespalten, vielmehr erneuert und zugleich West- und Ostkirche wieder versöhnt hätte.
    So bleiben denn die urchristlichen Kernanliegen des Franz von Assisi bis heute Fragen an die katholische Kirche und jetzt an einen Papst, der sich programmatisch Franziskus nennt: Paupertas (Armut), Humilitas (Demut) und Simplicitas (Schlichtheit). Dies erklärt wohl, warum bisher kein Papst den Namen Franziskus anzunehmen wagte: Zu hoch erschienen die Anforderungen.
    Damit stellt sich aber die zweite Frage: Was bedeutet es für einen Papst heute , wenn er mutig den Namen Franziskus annimmt? Selbstverständlich darf auch die Person des Franz von Assisi, die ihre Einseitigkeiten, Exaltationen und Schwächen hat, nicht idealisiert werden. Er ist keine absolute Norm. Aber seine urchristlichen Anliegen müssen ernst genommen werden, auch wenn sie nicht buchstäblich umgesetzt werden müssen, sondern von Papst und Kirche in die heutige Zeit hineinübersetzt werden sollten.
    (1) Paupertas, Armut? Kirche im Geist Innozenz’ III. ist eine Kirche des Reichtums, des Protzes und Prunkes, der Raffgier und der Finanzskandale. Dagegen meint eine Kirche im Geist des Franziskus eine Kirche der transparenten Finanzpolitik und der genügsamen Anspruchslosigkeit. Eine Kirche, die sich vor allem um die Armen, Schwachen, Benachteiligten, Hilfsbedürftigen kümmert. Die nicht Reichtum und Kapital aufhäuft, sondern die Armut aktiv bekämpft und ihrem eigenen Personal vorbildliche Arbeitsbedingungen anbietet.
    (2) Humilitas, Demut? Kirche im Geist von Papst Innozenz ist eine Kirche der Macht und der Herrschaft, der Bürokratie und der Diskriminierung, der Repression und Inquisition. Dagegen bedeutet eine Kirche im Geist des Franziskus eine Kirche der Menschenfreundlichkeit, des Dialogs, der Geschwisterlichkeit, der Gastlichkeit auch für Nonkonformisten, des unprätentiösen Dienstes ihrer Leiter und der sozialen Solidargemeinschaft, die neue religiöse Kräfte und Ideen nicht aus der Kirche ausschließt, sondern fruchtbar macht.
    (3) Simplicitas, Schlichtheit? Kirche im Geist von Papst Innozenz ist eine Kirche dogmatischer Unbeweglichkeit, moralistischer Zensur und juristischer Absicherung, eine Kirche der alles regelnden Kanonistik, der alles wissenden Scholastik und der Angst. Dagegen besagt Kirche im Geist des Franz von Assisi eine Kirche der Frohbotschaft und der Freude, einer am schlichten Evangelium orientierten Theologie, die auf die Menschen hört, statt nur von oben herab zu indoktrinieren, eine nicht nur lehrende, sondern immer wieder neu lernende Kirche.
    So lassen sich im Licht der Anliegen und Ansätze des Franz von Assisi grundsätzliche Optionen auch für eine katholische Kirche heute formulieren, deren Fassade bei großen römischen Manifestationen zwar glänzt, deren innere Struktur im Alltag der Gemeinden in vielen Ländern sich jedoch als morsch und brüchig erweist, weswegen viele Menschen sich von ihr innerlich und oft auch äußerlich verabschiedet haben.
    Allerdings wird kein vernünftiger Mensch erwarten, dass alle Reformen von einem Mann über Nacht realisiert werden. Immerhin, in fünf Jahren wäre ein Paradigmenwechsel möglich: Dies zeigte im 11. Jahrhundert der Lothringer Papst Leo IX. (1049   –   54), der die Reform Gregors VII. vorbereitete. Und das zeigte im 20.   Jahrhundert der Italiener Johannes XXIII. (1958   –   63), der das Zweite Vatikanische Konzil

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