Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Papst mit dem überraschenden Namen Franziskus sein Amt an.
Ob Jorge Mario Bergoglio sich überlegt hat, weswegen bisher kein einziger Papst den Namen Franziskus zu wählen wagte ? Jedenfalls war sich der Argentinier bewusst, dass er mit dem Namen Franziskus an FRANZ VON ASSISI anknüpft, den weltberühmten Aussteiger des 13. Jahrhunderts, jenen ehedem lebenslustigen, mondänen Sohn eines reichen Textilkaufmanns aus Assisi, der mit 24 Jahren auf Familie, Reichtum und Karriere verzichtet und selbst seine prächtigen Kleider an den Vater zurückgibt.
Es ist erstaunlich, wie Papst Franziskus von der ersten Minute seiner Amtsführung an einen neuen Stil wählte: anders als sein Vorgänger keine Mitra mit Gold und Edelsteinen, keine purpurne, mit Hermelin eingesäumte Mozetta, keine eigens angefertigten roten Schuhe und Kopfbedeckungen, kein Prachtthron mit Tiara.
Erstaunlich auch, dass der neue Papst auf pathetische Gesten und hochgestochene Rhetorik bewusst verzichtet und in der Sprache des Volkes redet, wie sie auch Laienprediger, damals wie heute von Päpsten verboten, praktizieren können.
Erstaunlich schließlich, wie der neue Papst seine Mitmenschlichkeit betont: Er bittet um das Gebet des Volkes, bevor er es selber segnet; bezahlt wie jeder andere seine Hotelrechnung; realisiert Kollegialität mit den Kardinälen im Autobus, in der gemeinsamen Residenz, beim offiziellen Abschied, wäscht jungen Strafgefangenen, auch Frauen, sogar einer Muslimin, die Füße und küsst sie. Ein Papst, der sich als Mensch mit Bodenhaftung präsentiert.
Alles das hätte FRANZISKUS VON ASSISI gefreut und ist das Gegenteil von dem, was zu seiner Zeit Papst INNOZENZ III. (1198 – 1216) repräsentierte. Zu ihm war im Jahre 1209 Franz mit elf »Minderbrüdern« (»fratres minores«) nach Rom gereist, um ihm seine kurze, ausschließlich aus Bibelzitaten bestehende Regel vorzulegen und die päpstliche Approbation für seine Lebensweise »nach der Form des heiligen Evangeliums« in gelebter Armut und Laienpredigt zu erhalten. Innozenz III., Graf von Segni, mit nur 37 Jahren zum Papst gewählt, war ein geborener Herrscher: ein in Paris ausgebildeter Theologe, scharfsinniger Jurist, gewandter Redner, fähiger Administrator und raffinierter Diplomat. Nie hatte ein Papst vorher und nachher größere Macht als er. Die mit Gregor VII. im 11. Jahrhundert eingeleitete Revolution von oben (»Gregorianische Reform«) hatte in ihm ihr Ziel erreicht. Gegenüber dem Titel »Stellvertreter Petri« bevorzugte er den bis ins 12. Jahrhundert für jeden Bischof oder Priester gebrauchten Titel »Stellvertreter Christi« (Innozenz IV. machte dann daraus sogar »Stellvertreter Gottes«). Anders als im ersten Jahrtausend und niemals anerkannt in den apostolischen Kirchen des Ostens, geriert sich der Papst seither als absoluter Herrscher, Gesetzgeber und Richter der Christenheit – bis heute.
Doch der triumphale Pontifikat Innozenz’ III. erwies sich nicht nur als Höhe-, sondern auch als Wendepunkt. Schon unter ihm zeigten sich die Verfallserscheinungen, die zum Teil bis in unsere Tage hinein Kennzeichen des römisch-kurialen Systems geblieben sind: Nepotismus und Verwandtenbegünstigung, Raffgier, Korruption und dubiose Finanzgeschäfte. Doch schon seit den 70er- und 80er-Jahren des 12. Jahrhunderts entwickelten sich mächtige nonkonformistische Buß- und Armutsbewegungen (Katharer, Waldenser). Aber Päpste und Bischöfe gingen freilich gegen diese bedrohlichen Strömungen mit Verboten der Laienpredigt, Verurteilung der »Ketzer«, Inquisition und sogar »Ketzer«-Kriegen vor.
Doch es war gerade Innozenz III., der bei aller Ausrottungspolitik gegen hartnäckige »Ketzer« (Katharer) doch versuchte, evangelisch-apostolische Armutsbewegungen in die Kirche zu integrieren. Auch Innozenz wusste ja um die dringend notwendigen Reformen der Kirche, für die er schließlich das glanzvolle Vierte Laterankonzil einberief. So gab er Franz von Assisi nach längerer Ermahnung die Erlaubnis zur Bußpredigt. Über das in der Regel geforderte Ideal der absoluten Armut möge er erst einmal im Gebet den Willen Gottes erforschen. Aufgrund eines Traumgesichts, in welchem ein kleiner, unscheinbarer Ordensmann die päpstliche Lateranbasilika vor dem Einsturz bewahrt – so wird berichtet –, habe der Papst schließlich die Regel des Franz von Assisi gebilligt. Er gab sie im Konsistorium den Kardinälen bekannt, ließ aber nichts Schriftliches
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