Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Widerstand erlaubt und sogar geboten sein. Gerade in der Kirche muss man »Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5,29). Und warum, frage ich mich, soll man nicht zum Beispiel das Zölibatsgesetz wie für die mit Rom unierten Kirchen des Ostens so auch für den deutschen Sprachraum durch freiwillige Ehelosigkeit ersetzen und das Gesetz denen lassen, die es beibehalten wollen?
Parole 5: Nicht aufgeben ! Bei der Rettung oder Erneuerung der Kirche, das wissen Sie, wirkt als die größte Versuchung, oft auch als bequemes Alibi, die Meinung, dass alles keinen Sinn habe, dass man doch nicht vorankomme, dass man sich besser verabschiede. Doch gerade in der gegenwärtigen Phase innerkirchlicher Restauration und Stagnation kommt es darauf an, in vertrauendem Glauben ruhig durchzuhalten und den langen Atem zu bewahren. Auch die politische »Restauration« im 19. Jahrhundert war nach drei Jahrzehnten vorbei.
Vertrauen wir auf die Macht der Hoffnung ! Noch warten viele auf die Einsicht der Verantwortlichen. Doch hat die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle auch bei vielen Bischöfen langsam einen Bewusstseinswandel in Gang gesetzt. Und sie sind nun auch grundsätzlicheren Infragestellungen ausgesetzt: etwa nach der Macht und ihrer Ausübung in der Kirche, nach ihrem rigiden Dogmatismus oder nach der Sexualität und ihrer Verdrängung.
Ich wünsche Ihnen allen von Herzen: Lassen Sie sich bei allen Enttäuschungen nicht entmutigen. Kämpfen Sie zäh, tapfer und ausdauernd weiter in vertrauendem Glauben und bewahren Sie angesichts aller Trägheit, Torheit und Resignation die Hoffnung auf eine Kirche, die wieder mehr aus dem Evangelium Jesu Christi lebt und handelt. Und vergessen Sie bei allem Zorn, Streit und Protest die Liebe nicht!
Mit diesem Appell hatte ich bereits am 18. Oktober 2012 meine Eröffnungsrede »Für eine Kirchenreform von unten« im selben Geist in der Frankfurter Paulskirche geschlossen. Dort waren in Erinnerung an die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren Reformgruppen aus dem ganzen deutschen Sprachraum mit internationalen Gästen zu einer mehrtägigen »Konziliaren Versammlung« zusammengekommen. Über 1000 Reformbegeisterte füllten bei der Eröffnungsveranstaltung den für die Demokratie in Deutschland so bedeutsamen Raum und gaben ihrer Sehnsucht nach mehr Demokratie in der Kirche auch an den folgenden Konferenztagen vielfältigen Ausdruck.
Ein Hoffnungssignal aus Rom
In den ersten zwei Monaten nach seiner Wahl habe ich bewusst noch keinen Kontakt mit Papst FRANZISKUS gesucht. Er braucht nun einmal Zeit, sich in sein vielfältiges, schwieriges Amt einzuleben. Doch nach einigen Wochen beruft er acht Kardinäle aus allen Kontinenten als engsten Beraterkreis für die Reform von Kirche und Kurie. Eine neue Form von kollegialer Kirchenleitung deutet sich damit an. Dies nehme ich zum Anlass, um am 13. Mai 2013 einen persönlichen Brief an Papst Franziskus zu schreiben, von einem guten spanischen Freund ins Spanische übersetzt. Ich begrüße zuerst die Wahl eines Südamerikaners und Jesuiten zum Papst und drücke meine Freude aus über den Stilwandel im Geist des heiligen Franz von Assisi, den er schon in den wenigen Wochen im neuen Amt durchgeführt hat. Auch finde ich es gut, dass er mit Personal- und Sachentscheidungen klug abwartet.
Doch dann mein Kernanliegen: »Um aus der gegenwärtigen Krise unserer Kirche herauszukommen, bedarf es zweifellos Überlegungen zu einigen Punkten besonders auch der Morallehre und vor allem grundlegender struktureller Reformen. Solche durchzusetzen wird sehr schwierig sein.« Dazu wünsche ich ihm »viel Weisheit, Mut und Ausdauer«.
Meinem Brief lege ich die obige Rede »Papst Franziskus – ein Paradoxon?« bei, die in der Madrider Tageszeitung »El País« am 10. 5. 2013 als Artikel erschienen ist. Dazu die spanische Ausgabe zweier meiner Bücher: »Was ich glaube« und »Ist die Kirche noch zu retten?«. Ich orientiere ihn darüber, dass ich diese Bücher auch an die acht Kardinäle schicken werde, je nachdem auf Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch oder Deutsch. Und schließe dann: »Wenn ich Ihnen noch einen Dienst leisten kann, den ich mit 85 Jahren zu leisten vermag, lassen Sie mich dies bitte wissen. Von Herzen wünsche ich Ihnen Gottes Segen für Ihre Riesenaufgabe.«
Natürlich bin ich sehr gespannt, ob eine Reaktion erfolgt und in welcher Weise. Zu meiner großen Überraschung erhalte ich wenig später einen an mich
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