Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
zumindest dann hoch schätzen, wenn wir selber persönlich betroffen sind.
Ich weiß, viele Unternehmen haben sehr zu kämpfen im Zeitalter internationaler Konkurrenz. Doch die Goldene Regel gilt auch für den wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb, bei dem sich sehr wohl unterscheiden lässt zwischen sauberen und unsauberen Strategien, zwischen lauteren und unlauteren Wettbewerbern, zwischen fairen und unfairen Politikern. Die Goldene Regel gilt also auch für Kollektive , besonders für politische Parteien und Interessengruppen, ja sogar im Verhältnis zwischen den Nationen. Sie wird seit den Greueln des Zweiten Weltkriegs faktisch weithin beachtet etwa im Falle von Deutschland und Frankreich, andererseits aber noch immer, besonders zwischen Israel und Palästina, sträflich missachtet.
Offensichtlich ist es nicht selbstverständlich, dass der Mensch sich menschlich , wahrhaft menschlich, human verhält . Warum? Der Mensch ist, das ist für uns keine Frage mehr, aus dem Tierreich hervorgegangen. Er ist deshalb von seiner Evolution her immer zugleich Geistwesen und Triebwesen. Das heißt: Der Mensch musste lernen, sich menschlich zu benehmen. Studien und Reisen nach Neuguinea, in den Norden Australiens und nach Afrika verhalfen mir schon früh zu der Einsicht: Schon die Ureinwohner verfügten über ein ungeschriebenes elementares Ethos, das ihnen ein Leben und Überleben ermöglichen half und das bis heute grundlegend ist für ein menschliches Zusammenleben: Ich habe es später das Urethos genannt – sozusagen der Nukleus, der Kern des späteren Weltethos, das ein Bewusstsein dieser Gemeinsamkeit voraussetzt.
Es ist deshalb kein Zufall, dass sich in den verschiedenen Regionen der frühen Menschheit ähnliche Grundregeln oder Kernnormen entwickelten. Diese konzentrieren sich auf vier lebenswichtige Bereiche menschlichen Zusammenlebens:
– Vor allem den Schutz des Lebens : »nicht morden« (unterschieden vom in bestimmten Grenzen erlaubten Töten), was für uns heute aber auch heißt: nicht foltern, quälen, verletzen …;
– Auch den Schutz des Eigentums : »nicht stehlen«, was heute einschließt: nicht ausbeuten, bestechen, korrumpieren …;
– Weiter den Schutz der Wahrheit : »nicht falsches Zeugnis geben, lügen«, auch nicht fälschen, täuschen, manipulieren …;
– Schließlich den Schutz der Geschlechtsbeziehungen : »nicht Unzucht treiben, Sexualität nicht missbrauchen«, also nicht erniedrigen, entwürdigen, betrügen ….
Gebote, ethische Grundregeln, Kernnormen, die aber – gerade in einer Zeit der Individualisierung, Pluralisierung und Säkularisierung – oft vergessen, ja bewusst ignoriert werden können. Aufgabe des Projekts Weltethos war und ist es, diese Gemeinsamkeit elementarer Grundnormen bewusst zu machen und sie auf die heutigen Verhältnisse anzuwenden . Und ich habe volles Vertrauen, meine Damen und Herren, dass auch meine Nachfolger in der Stiftung Weltethos das Bewusstsein für dieses ethische Erbe der Menschheit bewahren und weitergeben werden und dem Begriff Weltethos nicht irgendwelche Beliebigkeiten unterschieben lassen.
Geht es doch uns, die wir uns für ein Weltethos einsetzen, um nicht weniger als um ein Engagement für eine bessere Welt. Natürlich nehmen wir dabei den altbekannten Einwand ernst, das nütze alles nichts, diese Normen, wie ja auch die Zehn Gebote, würden in der Menschheit faktisch ständig missachtet und verachtet. Und manche ethischen Orientierungsinstanzen, nicht zuletzt die Kirchen, hätten gewaltig an Kredit verloren.
Aber mit Verlaub: Das Ethos ist immer kontra-faktisch. Wie würde die Welt denn aussehen ohne diese Gebote? Im Grunde wissen wir, wie sie aussähe. Wir bekommen es ja zurzeit nachgerade vordemonstriert, wie vor allem eine Welt der Wirtschaft und der Politik ohne Moral aussieht. Skandal über Skandal, wollte ich auch nur die bedeutendsten nennen, würde mein Vortrag ungebührlich verlängert. Die Globalisierung von Ökonomie, Technologie und Kommunikation hat ja auch, das war schon früh zu erkennen, eine Globalisierung des Verbrechens zur Folge.
Angesichts aller Hemmnisse und Hindernisse stellen sich viele unter Ihnen zu Recht die Frage,
– was ein Einzelner oder wenige Dutzend Menschen mit einer so ambitionierten Idee eines Weltethos alldem entgegensetzen können;
– was eine vergleichsweise kleine Stiftung – freilich mit Partnerstiftungen und Partnerorganisationen weltweit – in den nunmehr 18 Jahren
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