Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
vorbereitete Erklärung des InterAction Council früherer Staats- und Regierungschefs unter Führung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt: den Vorschlag einer »Allgemeinen Erklärung menschlicher Verantwortlichkeiten«.
10. Überraschung: Als Mitglied der »Gruppe herausragender Persönlichkeiten«, die 2001 im Auftrag von UN-Generalsekretär Kofi Annan einen Bericht für die Vereinten Nationen über die Notwendigkeit des Dialogs der Zivilisationen und eines gemeinsamen Ethos erarbeitete, durfte ich am 9. November 2001, wenige Wochen nach dem verheerenden Terrorangriff des 11. September, vor der UN-Vollversammlung in New York zusammenfassend formulieren: »Kein Überleben unseres Globus in Frieden und Gerechtigkeit ohne ein neues Paradigma internationaler Beziehungen auf der Grundlage globaler ethischer Standards.«
11. Überraschung: 2009 konnten wir in New York an den Vereinten Nationen das Manifest »Globales Wirtschaftsethos« vorstellen. Eine von unserer Stiftung berufene Expertengruppe von Unternehmern, Wirtschaftswissenschaftlern und Ethikern hatte es verfasst.
12. Überraschung: Das Jahr 2011 brachte uns die finanzielle Unterstützung von Karl Schlecht zur Gründung eines Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen, das im Sommersemester 2012 seine Arbeit aufnahm.
Schon während der ersten Religionsdialoge hier in Tübingen ging mir auf, dass die Religionen sich in Fragen des praktischen Verhaltens, der Praxis, des Ethos, sehr viel näher stehen als in Fragen des Glaubens, des Dogmas. In der Folge versuchte ich herauszuarbeiten, was denn den verschiedenen Religionen im Ethos tatsächlich gemeinsam ist, worin ein ethischer Grundkonsens inhaltlich besteht, wie er fruchtbar gemacht werden kann. Ich konnte so den anderen Sätzen hinzufügen: Kein ernsthafter Religionsdialog ohne gemeinsame ethische Werte, Maßstäbe und Haltungen .
Auf diesen sorgfältig empirisch erarbeiteten Pfeilern beruht die Idee des »Weltethos« – ein Begriff, den ich in Anlehnung an »Weltpolitik«, »Weltwirtschaft«, »Weltfinanzsystem« erst kurz vor der Veröffentlichung des Buches »Projekt Weltethos« 1990 gewählt habe, auf Englisch wurde es mit »Global Ethic« übersetzt, in einer Zeit, in der das Wort »Globalization« gerade aufkam.
Was aber, meine Damen und Herren, ist der Inhalt dieses globalen Ethos ? Kein kompliziertes Ethiksystem, sondern nur wenige elementare ethische Regeln. Die Normen, deren Beachtung sich für das Wohlergehen des Einzelnen wie das gute Zusammenleben einer Schulklasse oder eines Betriebs, jeder menschlichen Gemeinschaft, ja auch des Staates und der Weltgemeinschaft, positiv auswirkt, während ihre Missachtung destruktive, oft verhängnisvolle Folgen hat.
Was kann wohl als erstes ethisches Grundprinzip für alle Menschen und ihre Institutionen gelten? Dieses muss, wenn es universale Geltung haben soll, ganz allgemein formuliert werden. Dann kann dies nur heißen: »Jeder Mensch soll menschlich behandelt werden.« Dieses Grundprinzip der Humanität meint »jeder Mensch«: Mann und Frau, weiß und farbig, reich und arm, jung und alt etc.
Und was heißt: »menschlich«? Negativ definiert, leuchtet es sofort ein: »Menschlich« heißt jedenfalls nicht unmenschlich, gar bestialisch. Es herrscht Übereinstimmung, dass es unmenschlich ist, eine Frau öffentlich in einem Autobus zu vergewaltigen, Gefangene zu foltern oder in einem pädagogischen, gar geistlichen Amt Kinder und Jugendliche zu missbrauchen.
Doch lässt sich »menschlich« auch durchaus positiv bestimmen: Schon in »Projekt Weltethos« habe ich geschrieben: »Der Mensch muss mehr werden als er ist: er muss menschlicher werden! Gut für den Menschen ist, was ihn sein Menschsein bewahren, fördern, gelingen lässt – und dies noch ganz anders als früher. Der Mensch muss sein menschliches Potential für eine möglichst humane Gesellschaft und intakte Umwelt anders ausschöpfen, als dies bisher der Fall war« (S. 53).
Also kurz und knapp gesagt: Der Mensch soll sich wahrhaft menschlich, das heißt human verhalten. Dieses erste Grundprinzip der Humanität wird verdeutlicht und zugespitzt durch das Grundprinzip der Reziprozität , der Gegenseitigkeit: »Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.« Selbstverständlich ist diese »Goldene Regel« kein Rezept für bequeme moralische Lösungen aller menschlichen Probleme. Wohl aber ist sie eine allgemeine Richtlinie für ein ethisch-humanes Verhalten, das wir
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