Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
ist sie mit 96 Jahren verstorben. Ich freue mich, dass nachher mein Nachfolger als Präsident der Stiftung Weltethos Schweiz, Prof. WALTER KIRCHSCHLÄGER , ein Grußwort sprechen wird. Er tut dies auch im Namen des Vorstandsmitglieds CARLA SCHWÖBEL - BRAUN , die sowohl die schweizerische wie die deutsche Stiftung in allerneuester Zeit mächtig unterstützt hat.
Wir alle wissen: Natürlich braucht die Wissenschaft Geld, auch die Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften brauchen viel Geld, die Lebens- und Naturwissenschaften sogar sehr viel Geld. Aber, meine Damen und Herren, auch im Zeitalter der stark ökonomisierten Wissenschaft, der Drittmittel und Rankinglisten darf das Geld nicht über den Geist triumphieren : nicht in den Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften, doch wohl auch nicht in den Lebens- und Naturwissenschaften.
Kann man doch nicht übersehen: Zur Not kann Wissenschaft auch ohne viel Geld auskommen. Das galt zumindest für die großen Geister der Philosophie und Theologie der Vergangenheit. Es galt aber auch noch bis in die 1960er-Jahre, solange Einzelforschung und Monographien im Zentrum der Wissenschaft standen. Offen gestanden, ich habe als junger Doktor der Theologie meinen Tübinger Lehrstuhl – sogar ohne Habilitation! – aufgrund einer außerordentlichen Dissertation über Karl Barths Rechtfertigungslehre erhalten. KARL BARTH seinerseits erhielt seine Professur in Göttingen und vor ihm FRIEDRICH NIETZSCHE seine Professur in Basel sogar ohne Doktorat, wohl aber aufgrund außerordentlicher wissenschaftlicher Leistungen. Auch meine weiteren Bücher in den 1960er- und 1970er-Jahren habe ich ohne Drittmittel geschrieben.
Selbstverständlich war ich froh und dankbar, dass ich dann in den 1980er-Jahren – durch des Heiligen Stuhles Ungnade von Rechten und Pflichten eines Fakultätsmitgliedes entbunden – für mein auf drei Bände berechnetes Forschungsprojekt »Kein Weltfriede ohne Religionsfriede« über Judentum, Christentum und Islam großzügige Unterstützung durch Drittmittel vor allem der Bosch-Stiftung erfuhr. Ein Nebenprodukt dieses monumentalen Forschungsprojekts war ein kleines Buch mit dem Titel »Projekt Weltethos«, das Graf Groeben zur Gründung der Stiftung Weltethos veranlasst hat und später auch für Karl Schlecht wichtig wurde für die Gründung eines Weltethos-Instituts. So war es denn möglich, auch nach meiner Emeritierung das bewährte kleine, aber hoch qualifizierte Team zu meiner administrativen und wissenschaftlichen Unterstützung zu behalten, aus dem sich schließlich diese wunderbare Stiftung entwickelt hat.
Wie das finanzielle, so musste auch das geistige Kapital für das Projekt Weltethos mühsam erarbeitet werden – alles in allem eine höchst spannende Angelegenheit, bei der ich immer wieder meinen unstillbaren Wissensdurst stillen konnte. Ohne um das Ziel all dieser Bestrebungen zu wissen, hatte ich in den vorausgehenden Jahrzehnten komplexe Probleme gesichtet, ohne deren Lösung wiederum das Projekt Weltethos schlechterdings nicht möglich gewesen wäre. Ich tippe sie nur an:
(1) Das römisch-katholische Extra-Dogma: »Extra ecclesiam, außerhalb der Kirche kein Heil!«: Die Unfehlbarkeit solcher Kirchensätze musste philosophisch, exegetisch, historisch, systematisch infrage gestellt und durch eine weite biblische Sicht ersetzt werden.
(2) Aber auch das protestantische Extra-Dogma: »Extra Christum, außerhalb Christus kein Heil« musste relativiert werden: Gegen diese verengte Sicht war der in der Bibel klar bezeugte universale Heilswille Gottes in all seinen Konsequenzen zu bedenken, der will, dass alle Menschen selig werden und nicht nur diejenigen, die Christus kennen.
(3) Das Grundvertrauen: Die Möglichkeit eines religiösen wie nichtreligiösen Menschen offenstehenden Ur- oder Grundvertrauens musste als Basis eines Grundethos philosophisch aufgezeigt werden.
(4) Die anthropomorphe Gottesvorstellung der Bibel: Diese, vielfach allzu menschenförmig verstanden, musste mit analogen Vorstellungen in Religionen indischen und chinesischen Ursprungs konfrontiert und auch mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft versöhnt werden.
(5) Das dogmatische Christusverständnis: Dieses, in hellenistischen Kategorien formuliert, musste von der historisch-kritischen Jesus-Forschung überprüft und so vom geschichtlichen Jesus von Nazaret her überholt werden: eine solide Basis für den Dialog mit den anderen Weltreligionen.
(6) Ein vertieftes
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