Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
war ich von Jugend auf: ein leidenschaftlicher Musikliebhaber und engagierter Musikhörer, der sich jedoch sein »Repertoire« durch viele Jahre als Autodidakt erarbeiten musste. Mitbekommen von meinen Eltern habe ich natürliche Musikalität und ein gutes musikalisches Gedächtnis. Aber wie ich schon in meinem ersten Memoirenband berichtet habe, verkaufte mein Großvater im Zorn kurzerhand sein Klavier, nachdem seine drei Söhne und seine Tochter zwar allesamt Klavierunterricht genossen hatten, aber kaum je spielen wollten. So erhielt ich keinen regelmäßigen Klavierunterricht und vergnügte mich später mit dilettantischer Liedbegleitung auf Klavier oder Handharmonika. Aber ich entwickelte mein »Hör-Repertoire« von Volksmusik und Wiener Operette zur Oper, zur Symphonik und schließlich zur Kammermusik. Entsprechend wuchs meine Plattensammlung.
Musik begleitet, wo immer es möglich ist, meinen Lebensweg und Tageslauf. Nicht nur aus der Religion, sondern auch aus der Musik beziehe ich innere Kraft, schöpferische Phantasie und disziplinierte Ausdauer. Aber über Musik zu schreiben und öffentlich zu reden ist etwas völlig anderes. Es bedeutet eine künstlerisch-intellektuelle Herausforderung eigener Art. Doch hoffe ich, wenn herausgefordert, einige Perspektiven und Details ans Licht bringen zu können, die vielleicht nur der Theologe so hervorzuheben vermag.
In meiner Sturm-und-Drang-Zeit ziehe ich Beethoven allen anderen vor, später abgelöst durch Mozart. Zu RICHARD WAGNER aber ist mein Verhältnis wie das vieler Zeitgenossen eher gespalten. Die raffiniert instrumentierten klangmächtigen Ouvertüren von Wagners zweiter, reifer Schaffensperiode – »Der fliegende Holländer«, »Tannhäuser«, »Lohengrin« – begeistern mich immer wieder, den Matrosen- und den Spinnerinnenchor des »Holländers«, den Pilgergesang aus »Tannhäuser«, den Brautchor des »Lohengrin« und vor allem die Chöre der »Meistersinger« finde ich bis heute hinreißend. Doch die durchkomponierten Opern der dritten Periode mit ihrer dramatisch inspirierten »unendlichen Melodie« und ihren verschiedenen Leitmotiven erscheinen mir langatmig und ermüdend.
Aber Walter und Inge Jens berichten mir und Marianne Saur immer wieder begeistert von Bayreuth und ihrer Freundschaft mit dem Festspielleiter WOLFGANG WAGNER und seiner zweiten Frau GUDRUN , welche die Fäden der Festspielorganisation fest in ihren Händen hat. Sie motivieren uns schließlich doch zum Besuch der Bayreuther Festspiele; eine intensive Beschäftigung mit Richard Wagner lohne sich gerade auch für einen Theologen. Karten, auf die andere jahrelang warten müssen, bekommen wir durch Vermittlung unserer Freunde ohne Schwierigkeiten. Und so nehmen wir denn im August 1981 zu viert an einer Aufführung des »Holländers« durch HARRY KUPFER teil. Eine überzeugende Inszenierung. Kupfer bietet kein »Regietheater«, bei dem sich der Regisseur als Hauptperson profiliert, sondern eine psychologisch feine Neuinterpretation, in welcher Sentas Traum die Rahmenhandlung bildet. Dazu kommen die von Wolfgang Wagner selber echt fränkisch-fröhlich inszenierten »Meistersinger« und eine begeistert aufgenommene Neuinszenierung JEAN-PIERRE PONNELLES von »Tristan und Isolde« mit DANIEL BARENBOIM als musikalischem Leiter, den ich kurz begrüßen darf. Ein reines Kunst-Erlebnis. Doch ich ahne schon, dass Wolfgang Wagner von mir früher oder später einen Beitrag zur Musik Richard Wagners erwartet.
Richard Wagner: »Parsifal«
Am 22. Februar 1982 erhalte ich eine telefonische Anfrage von Wolfgang Wagner, ich möge zur Jahrhundertfeier der ersten Aufführung von Wagners Spätwerk »Parsifal« (1882) einen großen Aufsatz für das viel beachtete Programmheft der Festspiele von 1982 schreiben. Ich komme in Verlegenheit, weiß ich doch sofort, welch hohe künstlerisch-intellektuelle Herausforderung das wäre, zu bewältigen neben meinem sonstigen Arbeitspensum. Aber die Einladung ausschlagen? Mit nicht geringer Mühe arbeite ich mich nun in Libretto, Literatur und Musik dieses »Bühnenweihfestspieles« ein, um als Theologe Richard Wagners Verhältnis zur Religion – angesichts der Vielzahl widersprüchlicher Interpretationen – zu klären.
Die professionelle Theologie hat die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Richard Wagner weithin gescheut und bietet wenig Hilfe. Selbst Barth und Tillich haben sich mit dieser musikalischen Jahrhundertgestalt nicht auseinandergesetzt, und in den
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