Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
wenn ich auch später nur noch selten nach Bayreuth kommen kann, weil der Weg von der Zentralschweiz nach Bayreuth im Ferienmonat August mich doch zwei Tagereisen kostet. Tief betroffen muss ich dann am 28. November 2007 zur Kenntnis nehmen, dass GUDRUN WAGNER , die auch in künstlerischen Fragen zunehmend ein gewichtiges Wort mitsprach, 63-jährig unerwartet stirbt. »Ihr plötzlicher Tod ist für uns unbegreiflich«, heißt es lapidar auf der von Wolfgang Wagner, jetzt 88 Jahre alt, und ihrer Tochter Katharina unterzeichneten Todesanzeige. Am 21. März 2010 stirbt auch er.
Gefreut hat mich, dass NIKE WAGNER , eine Urenkelin Richards und Nichte Wolfgangs – ich hatte sie anlässlich ihres Eröffnungsvortrags zum Lucerne Festival 2011 kennengelernt –, einen zentralen Text aus meinem Wagner-Kapitel in ihre Anthologie »Über Wagner« (2013) aufgenommen hat mit der Anmerkung: »Wollte man ihn (Küng) mit Wagner vergleichen, so hätten wir zwei streitbare, furchtlose Neuerer: Küng durch seine Frage nach der päpstlichen ›Unfehlbarkeit‹ und seine Kritik des Zölibats, durch seinen Einsatz für die Ökumene und die Gleichberechtigung der Frauen in der Kirche, Wagner durch seine Revolutionierung des Opernschaffens. Dem Künstler ging es freilich um sein Werk, der Kirchenmann kämpft für die anderen.«
Indessen hatte ich mich intensiv auch einem anderen musikalischen Meister zugewandt, der mir nicht weniger Freude bereitet:
Eine Festrede für Mozart
Nach einem anstrengenden Tübinger Semester mit Studium generale und einer Nahostreise hoffe ich, Ende Juli und August 1990 in meinem Seehaus einige ruhige Wochen zu verbringen, zur physischen und psychischen Erholung und vor allem zur ungestörten Lektüre. Auch an regnerischen Tagen schwimme ich zweimal, an schönen sogar dreimal in den See hinaus. Doch schon bald nach meiner Ankunft am Sempachersee – am sonnigen 25. Juli 1990 – meldet sich am Telefon, während ich weit draußen im See bin, aus München Generalintendant AUGUST EVERDING : Es sei dringend, er werde in ungefähr einer halben Stunde noch einmal anrufen. Was er wohl will, mein Jahrgangsgenosse und wie ich Autor des Piper Verlags? Vor einiger Zeit hatte sich das halbe Dutzend der 1928er unter den Piper-Autoren anlässlich eines kleinen Verlagsfestes zu unserem 60. Geburtstag getroffen. Der geistig quirlige Everding ist wohl Deutschlands bekanntester Theaterleiter und Regisseur. Er steht nicht nur den staatlichen Theatern Münchens vor, sondern inszeniert Opern auch auf anderen deutschen und internationalen Bühnen.
Eine halbe Stunde später kommt Everding am Telefon rasch zur Sache: »Sie müssen mir unbedingt Anfang des Jahres 1991 anlässlich der Wiedereröffnung des Prinzregententheaters zum 200. Todesjahr Mozarts die Festrede halten.« Meine Antwort: »Das kommt nicht infrage, ich bin weder Musiker noch Musikwissenschaftler.« Er: »Gerade deshalb! Ich will keine konventionelle Mozart-Rede hören, Ihnen wird, wie ich Sie kenne, bestimmt etwas Originelles einfallen!« »Und wenn auch – ich habe schlicht keine Zeit, dies und jenes sind meine Projekte der allernächsten Zukunft …« »Nun gut, aber bitte, bitte sagen Sie jetzt nicht definitiv Nein; ich fliege morgen nach New York zur Metropolitan Opera und bin in einer Woche zurück, und so haben Sie Zeit zum Überlegen.« »Einverstanden unter der Bedingung, dass ich dann nochmals Nein sagen darf.«
Aber natürlich geht mir das Ganze durch den Kopf, und gegen Abend, da ich wieder in »meinen« See hinausschwimme, kreisen meine Gedanken um diesen Vorschlag, und es kommt mir der Einfall: Du kennst doch persönlich zwei berühmte engagierte Mozart-Hörer, die schon anlässlich des 200. Geburtstages von Mozart 1956 interessanter über ihn gesprochen und geschrieben haben als manche Musikforscher. Zwischen denen könnte ich meinen Platz finden. Everding ruft nach einer Woche wieder an und ist hell begeistert, als ich ihm eine Zusage gebe und meine Idee verrate.
Spuren der Transzendenz
Allerdings habe ich mir die Messlatte mit diesen beiden Mozart-Verehrern von hohem Reflexionsniveau und formaler Brillanz, die sich übrigens gegenseitig in Sachen Mozart kaum zur Kenntnis nehmen, sehr hoch angelegt. Der eine ist der Basler Theologieprofessor KARL BARTH , von dem in diesen Erinnerungen schon oft die Rede war und der als einziger der großen Theologen des 20. Jahrhunderts Mozarts ungeheueres Werk auch theologisch zu deuten wagte. Der
Weitere Kostenlose Bücher