Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
mich auch gerne an die Spaziergänge mit dem Ehepaar Jens durch die umliegenden Wiesen in den langen Pausen und nicht zuletzt an manchen geistreichen Austausch mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, auch ein Wagner-Bewunderer, ansonsten bekannt durch seine bissigen Kommentare.
Im Jahr 1983 sind wir – wieder zu viert – eingeladen vom 23. bis 28. August, um die Neuinszenierung des ganzen Rings der Nibelungen mitzuerleben: »Das Rheingold«, »Die Walküre«, »Siegfried« und »Götterdämmerung«. Wahrlich, ein geniales Gesamtkunstwerk, das einem, will man Text und Musik verstehen, einiges an Vorbereitung abfordert. Die als allzu statisch empfundene Regie von PETER HALL wird durchwegs kritisch aufgenommen, mit Begeisterung aber die hoch differenzierte musikalische Leitung durch Sir GEORG SOLTI .
Was ist der Sinn der »Götterdämmerung«?
Wolfgang Wagner hatte mich gefragt, ob ich ihm nicht einen ebenso grundsätzlichen Artikel zu Wagners »Ring des Nibelungen«, genauer zu dem letzten, schwer verständlichen Teil, der »Götterdämmerung«, schreiben wolle. Die Aufgabe ist ebenso schwierig wie reizvoll: Der musikalische Schluss der »Götterdämmerung« ist zwar überwältigend, ihr inhaltlicher Sinn aber bleibt dunkel und höchst umstritten. Richard Wagner, der zunächst nur eine Heldenoper über »Siegfrieds Tod« schreiben will, ist damals ein politischer Revolutionär, der ganz unter dem Einfluss des atheistischen Philosophen Ludwig Feuerbach steht.
Das bezeugt seine Schrift »Die Kunst und die Revolution« von 1849. Hinter der von Wagner selber konstruierten germanischen Mythologie, die uns heute wenig interessant erscheint, verbergen sich sozialistische und radikal-demokratische Ideen von Staat, Privateigentum und Ehe, die ganz auf persönliche Freiheit und freie Liebe ausgerichtet sind. Am Ende der »Götterdämmerung« ist nicht nur der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch der Untergang der Götter angekündigt: nach dieser Entgötterung (statt Siegfrieds Vergötterung) scheint Gott auch für Wagner tot zu sein. Freilich geißelt er auch die bürgerlichen Ersatzformen, die in das »religiöse Vakuum« vorgedrungen seien: den Gott der Industrie, den Erwerb, das Geld, den Ruhm.
Später aber distanziert sich Wagner deutlich vom Atheismus Feuerbachs. In seiner drei Jahrzehnte später erschienenen Abhandlung »Religion und Kunst« (1880) bekennt er sich zu einer »wahrhaftigen Religion«, aus der die Kraft zur Erneuerung des Menschen kommen könne, der als »Raubtier« in Gewalttätigkeit, Machtbesessenheit, Besitzgier und Kriegslüsternheit sich selbst bedroht.
Die viel diskutierte Frage nun: Was kommt nach der »Götterdämmerung«, die ja keinen Hoffnungsstreifen, wie ihn manche Interpreten festzustellen meinen, aufscheinen lässt? Nach all den Studien beantwortet sich für mich diese Frage überraschend einfach, und meine Antwort ist nicht nur chronologisch, sondern höchst sachlich zu verstehen: Nach der »Götterdämmerung« kommt – der »Parsifal«! Nicht die »Götterdämmerung«, erst der »Parsifal« ist das große Erlösungsdrama Richard Wagners.
So hat mir denn die intensive Beschäftigung mit Text und Musik Wagners tiefen Einblick in die Ambivalenz der Moderne geboten. Ein Wagnerianer aber bin ich deshalb nicht geworden. Doch haben Walter Jens und ich der Universität vorgeschlagen, WOLFGANG WAGNER – zusammen mit dem Bildhauer OTTO HERBERT HAJEK und dem Schriftsteller PETER HÄRTLING – zum Ehrensenator der Universität Tübingen zu machen. Uns geht es also nicht einfach um den Komponisten Wagner, sondern um eine stärkere Verbindung der Universität nicht nur wie üblich zur Wirtschaft und zur Politik, sondern auch zu den Künsten. So findet am 25. April 1988 im Festsaal der Universität ein akademischer Festakt über »Universität und Künste« statt, bei dem den dreien vom Rektor der Universität die Ehrensenatorenwürde verliehen wird. In den folgenden Wochen organisieren Walter Jens und ich drei Werkstatt-Gespräche mit Wolfgang Wagner (2. Mai), Peter Härtling (16. Mai) und Otto Herbert Hajek (6. Juni), an denen auch andere Professoren der Universität teilnehmen. Dies alles findet statt im Rahmen des Studium generale; dessen Hauptanlässe sind drei Doppelvorlesungen von Walter Jens und mir unter dem Titel »Plädoyers für Humanität: Thomas Mann – Hermann Hesse – Heinrich Böll«.
Wir erhalten die Verbindung mit den Wagners aufrecht,
Weitere Kostenlose Bücher