Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
komplizierte Perioden aus ineinandergeschachtelten Haupt- und Gliedsätzen zu konstruieren. Ich möchte nicht nobelpreisverdächtig schreiben, sondern in erster Linie verstanden werden und überzeugen. Bisweilen durchaus eine dramatische Rhetorik, aber keine cicerionianische Eloquenz, das Ideal eines Pius XII. Pacelli.
Unsere gemeinsame Vorlesung findet also im Wintersemester 1984/85 statt. Zusammen bilden Jens und ich ein sozusagen perfektes Duo: Er fesselt und ergötzt unsere Zuhörerschaft mit glänzenden Charakterisierungen unserer Autoren und originellen Einsichten in deren Werk und Person, arbeitet mit vielen Zitaten, Anekdoten und Assoziationen, was auch für die spätere Drucklegung seiner Essays keine Zwischentitel gestattet. Aber das Publikum ist mir immer dankbar, wenn ich zuvor relativ nüchtern und doch fesselnd die große literarische Gestalt in ihrer Zeit zu sehen versuche und ihr Werk systematisch analysiere und auf unsere Zeit hin interpretiere. Dies schafft eine eigene Spannung und bildet eine gute Grundlage für Jens’ mehr persönliche Interpretationen und Reflexionen. Ich sage ihm manchmal in der Sprache des Eiskunstlaufs: »Ich laufe die Pflicht mit den vorgeschriebenen Figuren. Du tanzt die Kür mit kunstvollen Sprüngen, Drehungen und Pirouetten!«
Wir hatten uns auf acht Schriftsteller der Weltliteratur und ihr Hauptwerk geeinigt – alle gesehen im Aufbruch und in der Krise der Moderne. Unsere Vorlesungen 5 sollen verstanden werden als »Erkundungen auf einem weithin noch unerschlossenen Gebiet und den Charakter einer überblicksartigen Landvermessung haben«, wie wir es in unserem gemeinsamen Vorwort zur Veröffentlichung beschreiben: »Dabei wurde so verfahren, dass bestimmte Bereiche und Epochen jeweils, exemplarisch, mit Hilfe einer ›Führ-Figur‹, diese Figur wiederum mit Hilfe der Beschreibung eines einzelnen Werks verdeutlicht wurde. Makro- und Mikro-Analyse, historischer Überblick und Detail-Deutung, Aufweis der großen Linien und Bezeichnung signifikanter Einzelheiten hatten einander zu ergänzen, wobei dem Theologen im Allgemeinen der Blick vom Olymp, dem Literaturwissenschaftler die – nicht minder ergiebige – Froschperspektive vorbehalten blieb. (Gelegentlicher Rollentausch nicht nur gestattet, sondern erwünscht.)« 6
Also acht Doppelvorlesungen mit folgenden Themen: Religion im Aufbruch der Moderne: BLAISE PASCAL ; Religion im Bann der Reformation: ANDREAS GRYPHIUS ; Religion im Prozess der Aufklärung: GOTTHOLD EPHRAIM LESSING ; Religion als Versöhnung von Antike und Christentum: FRIEDRICH HÖLDERLIN ; Religion im Spiegel der romantischen Poesie: NOVALIS; Religion als Widerspruch zum Bestehenden: SØREN KIERKEGAARD ; Religion im Widerstreit der Religionslosigkeit: FJODOR MICHAILOWITSCH DOSTOJEWSKI ; Religion im Zusammenbruch der Moderne: FRANZ KAFKA .
Unsere Vorlesungsreihe wird zu einem riesigen Erfolg. Der Festsaal reicht nicht aus, um die Hörer zu fassen. Eine Übertragung in das Auditorium maximum wird nötig. Der zuständige Pedell fühlt sich beinahe überfordert: »Welch ein Rummel«, lässt er sich vernehmen, »und das Schlimmste: In acht Tagen kommen die beiden Kerle wieder!«
Ein Tübinger Theologie-Literatur-Symposion
Wie oft bin ich gefragt worden: »Wie schafft ihr dies alles? Solche Veranstaltungen, Vorlesungen, Kolloquien, Symposien – wie bringt ihr dies alles zusammen: das Wissen, die Leute und das Geld?« Antwort: »In erster Linie braucht es Köpfe! Mit Geld allein hat man noch keine Köpfe. Aber Köpfe können mit einigen Mühen das notwendige Geld zusammenbringen. Und sie können vor allem andere kreative Köpfe ansprechen.«
Und so war es auch in diesem Fall: Nach dem großen Erfolg der Studium-generale-Vorlesung über religiöse Werke der Weltliteratur setzen sich Walter Jens, Karl-Josef Kuschel und ich zusammen und planen ein Symposion , welches das Gespräch zwischen Theologie und Literatur noch mehr in Bewegung bringen soll. Dieses Mal wenden wir uns an die Fritz Thyssen Stiftung. Die Kosten sind beträchtlich, doch brauchen wir mit einer Ausnahme keine Teilnehmer über den Atlantik zu transportieren. Erfreulicherweise genehmigt die Fritz Thyssen Stiftung unseren Antrag. Und wir erhalten auch Unterstützung durch das Wissenschaftsministerium des Landes Baden-Württemberg und den Universitätsbund Tübingen. So kann das Symposion »Theologie und Literatur« über »Möglichkeiten und Grenzen eines Dialogs im 20. Jahrhundert« für
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