Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Küng
Vom Netzwerk:
Zukunftsweisendes wenig günstigen Atmosphäre geht Bruckner als der eigenwilligste Kirchenmusiker der zweiten Hälfte des 19.   Jahrhunderts seinen ganz eigenen Weg und schafft mit seinen drei großen Messen und seinem »Te Deum« unvergängliche Werke der sakralen Musik.
    Doch ich habe mich ja nun auf den Symphoniker Bruckner und seine 8. Symphonie zu konzentrieren. Glücklicherweise besitze ich die Schallplattenedition des damals bedeutendsten Bruckner-Dirigenten EUGEN JOCHUM , den ich bei den Internationalen Musikfestwochen Luzern bei einem Abendessen im Anschluss an sein Konzert persönlich kennenlernen durfte. Mich interessiert zunächst die wohlbekannte Diskrepanz zwischen dem unsicheren, oft hilflosen Menschen und dem hochdifferenzierten musikalischen Genie Bruckner, und noch mehr die zwischen seinem schlichten persönlichen katholischen Glauben und seiner äußerst komplexen Musik.
    Tatsächlich ist Anton Bruckner – für die völlig säkularisierte Musikwelt des späten 19. Jahrhunderts ganz untypisch – von einem ungebrochenen, ja kindlichen christlichen Glauben beseelt. Doch ist er nicht, wie oft behauptet, ein musikalischer Mystiker und auch kein Komponist »absoluter« Musik. Wohl aber komponiert Bruckner auch dann, wenn er Nicht-Religiöses vertont, immer als religiöser Mensch, dem alle Musik letztlich von Gottes Gnade »geschenkt« ist. Musik ist für ihn Sprache des Herzens, und sein Herz glaubt zutiefst innerlich; oft betet er beim Komponieren: »Mein lieber Gott!« Bruckner ist also ein religiös fundierter Symphoniker, der seine Musik als Gottes-Dienst betrachtet. Und das heißt: Als Musiker ist Bruckner so wenig wie Bach eine gespaltene Existenz.
    An der Schwelle zur Moderne
    Zugleich aber versuche ich nun auch deutlich zu machen, wie Anton Bruckner an einer Epochenschwelle der Musikgeschichte komponiert, die zu überschreiten geradewegs in die Problematik der Musik der Gegenwart führt. Auch in der Musikgeschichte, so habe ich mir langsam Klarheit verschafft, haben ja epochale Paradigmenwechsel stattgefunden: etwa im 16.   Jahrhundert von den mittelalterlichen Kirchentonarten zu den modernen Tonarten oder im 18.   Jahrhundert von der barocken Polyphonie Bachs und Händels zum sogenannten »empfindsamen« Stil, zu Vorklassik, Klassik und Romantik, wo Musik Ausdruck der persönlichen Empfindung, Gefühlsbewegung und Stimmung wird, die im Hörer ein Mitempfinden und Mitfühlen dieser Seelenvorgänge hervorruft. Auch Anton Bruckner komponiert eine hochmoderne »Ausdrucksmusik« mit viel romantischem Pathos und melodisch-harmonischer Komplexität.
    Doch in diesem modernen Paradigma scheint die romantische Symphonie Bruckners (zusammen mit der seines jüngeren Zeit- und Weggenossen Gustav Mahler) den Höhe- und zugleich den Endpunkt zu bilden, wie auch in der Oper nach Wagner ein Weitergehen auf diesem Weg kaum noch möglich ist. Ein neuer Paradigmenwechsel ist fällig, ein Wechsel der Gesamtkonstellation bei allen bleibenden und konstanten Elementen. Aber die große Frage: Bleiben denn bei diesem Paradigmenwechsel nach Bruckner, besonders in der Revolution ARNOLD SCHÖNBERGS und seiner Zwölftonmusik, diese Konstanten abendländischer Musik noch erhalten? Werden hier nicht der Grundton als musikalischer Schwerpunkt und das Prinzip der Tonart aufgegeben und damit Tonalität und Konsonanz zugunsten von Atonalität und Dissonanz?
    THOMAS MANN hat in seinem Roman »Doktor Faustus« diese Problematik des modernen Musiklebens scharfsinnig behandelt in der Gestalt des Musikers Adrian Leverkühn, der einen Pakt mit dem Teufel schließt, um die eigene große Produktionskrise zu überwinden. Und so gestatte ich mir in meinem Bruckner-Vortrag im Anschluss an Thomas Mann einige kritische Fragen, die nicht auf eine Restauration der Romantik, wohl aber auf eine Rückbesinnung auf die große abendländische Tradition zielen. Ich frage mich: Können junge Komponisten, die durch das Feuer der Atonalität hindurchgegangen sind, nicht vielleicht wieder eine gemeinsame Sprache, einen neuen, anderen Sinn für das Tonale, eine Synthese der möglichen Klänge finden – ohne alle Schuldogmen, ohne Verbote von reinen Dur-Klängen und anderen Zwangsvorschriften? Oder sollten sich Gebundenheit und Formenstrenge auf der einen Seite und freier Affekt, Sensitivität, Gefühl, Stimmung auf der anderen nicht mehr finden können? Das sind nicht alles falsche Hoffnungen, Illusionen. Hat die Avantgarde heute – ich nenne

Weitere Kostenlose Bücher