Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
absichtlich keine Namen – die früheren Gegensätze, auch die zwischen Dissonanz und Konsonanz, nicht hinter sich gelassen?
Meine Gesprächspartner beim Symposion im Jahr 1989 haben keinen Einwand gegen meine Bruckner-Interpretation, aber auf meine Anfrage an die Musik der Gegenwart gehen sie nicht ein. Doch habe ich meine Hoffnung auf eine neue Synthese und meine Sehnsucht nach Erleben von Klang, von Melodie nicht aufgegeben. Sie schließt für mich schon damals eine Art »Weltmusik« ein, die afrikanische, indische und fernöstliche Traditionen aufnehmen kann.
Aus dieser Hoffnung heraus rege ich 2006 eine »Weltethos-Komposition« an, ein Auftragswerk der Stiftung Weltethos. Ich werde im Kapitel X über das Weltethos ausführlicher auf dieses außergewöhnliche Projekt eingehen.
Pilotprojekt V: Religion und Naturwissenschaft
Dieses Projekt vollzog sich in mehreren Phasen. Schon in den 1970er-Jahren hatte ich mich intensiv der Frage »Existiert Gott?« zugewendet und für diese »Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit« (1978) den neuesten Forschungsstand der Astrophysik wie der Mikrobiologie im Hinblick auf Kosmologie und Entwicklungstheorie studiert.
Evolutionstheorie und Schöpfungsbericht
Es war für mich nicht einfach: Für die Astrophysik setzte ich mich eingehend mit der Relativitätstheorie von Albert Einstein auseinander und verglich die Ergebnisse mit den Aussagen des biblischen Schöpfungsberichts. Zugleich beschäftigte ich mich mit den neuesten Ergebnissen der Mikrobiologie, vor allem mit den Nobelpreisträgern JACQUES MONOD (»Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie«, dt. 1971) und MANFRED EIGEN , den ich persönlich kennenlernte und für meine Antwort auf Monod zurate zog. Auf diese Weise war es mir möglich, die Ergebnisse der Evolutionstheorie mit der Sicht der Bibel zu vergleichen. Ich habe mir von daher zum Prinzip gemacht, immer zuerst die allgemein akzeptierten Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft unvoreingenommen zur Kenntnis zu nehmen und dann erst zu sehen, wie mit ihnen die Daten der biblischen Offenbarung in Einklang gebracht werden können. 11 Auf diese Weise habe ich mir eine gute Basis verschafft für die Diskussion mit Naturwissenschaftlern, mit denen ich nie einen ernsthaften Dissens feststellte. 12 Statt eines Konfrontations- oder Integrationsmodells vertrete ich für den Dialog ein Komplementaritätsmodell.
Im Jahr 1994 konnte ich auf dieser Basis mit meinen Tübinger Kollegen vom Physikalischen Institut, den Professoren AMAND FÄSSLER, FRIEDRICH GÖNNENWEIN, HERBERT MÜTHER, HERBERT PFISTER, FRIEDEMANN REX, GÜNTHER STAUDT und KARL WILDERMUTH, in einem Semester-Kolloquium über »Unser Kosmos. Naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Aspekte« meine Auffassungen testen und sie am Ende in 22 Thesen zusammenfassen.
Doch erst nachdem ich meine Trilogie zur religiösen Situation der Zeit – »Das Judentum« (1991), »Das Christentum« (1994), »Der Islam« (2004) – abgeschlossen hatte, kann ich eine neue Phase des Dialogs einleiten: Die Einladung der ehrwürdigen Deutschen Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte, auf ihrer Jahresversammlung in Passau am 19. September 2004 den Festvortrag »Zum Ursprung des Kosmos« zu halten, ist für mich der herausfordernde Anlass, mich neu mit den Grundfragen der Kosmologie und danach der Biologie und Anthropologie zu befassen – die dritte Phase des Pilotprojekts Religion und Naturwissenschaft.
Der Anfang aller Dinge
Für das Jahr 2005 arbeite ich die ganze Problematik erneut gründlich durch und erweitere sie für eine Vorlesungsreihe im Studium generale:
1. Eine vereinheitlichte Theorie für alles? Im Zusammenhang der Quantentheorie stelle ich die Suche nach einer Weltformel als große Hoffnung dar, die aber mit einer großen Enttäuschung endete: Sie konnte nämlich nicht gefunden werden, wie ich vor allem in Auseinandersetzung mit dem britischen Physiker Stephen Hawking herausarbeite.
2. Gott als Anfang? Bei der Frage nach dem Anfang der Anfänge frage ich vor allem empirisch nach dem Woher des Urknalls und der allgemein anerkannten Naturkonstanten. Nachdem die Physik die Ursache des Urknalls und den Ursprung der kosmischen Ordnungsprinzipien nicht erklären kann, ist man auf Auskünfte der Religion verwiesen. Diese lassen sich freilich nicht mathematisch-naturwissenschaftlich beweisen oder widerlegen, sondern können nur in einem vernünftigen Akt des Glaubens
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