Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall« (1977 – 79) fertiggestellt und wendet sich nun immer mehr der Religion zu. Erstaunlich dabei nur, wie dieser Vertreter eines »liberalen« Marxismus, jetzt »Konvertit« und glühender Anhänger des polnischen Papstes, die Inquisitionsmaßnahmen dieses Papstes zu verharmlosen trachtet und mich als Abweichler zu diskreditieren sucht.
Ja, es stimmt: Ich komme in den USA an mit meinen Vorlesungen, Vorträgen und Büchern. Aber das andere kann ich auch nicht verkennen: Leider erreiche ich aufgrund einer systematischen Obstruktionspolitik der Hierarchie nicht mehr solch große katholische Auditorien wie bei meiner ersten Vortragsreise vor fast 20 Jahren. Die katholische Kirche, die nach der Pastoralkonstitution des Konzils »Ecclesia in mundo huius temporis – Kirche in der Welt von heute« (1965) sein wollte, wird wieder mehr und mehr eine Welt für sich, die sich besser dünkt als die Welt da draußen. Mit JOHANNES PAUL II. und seinen Lehrdokumenten wie Personalentscheidungen hat sich der Wind gedreht – in Richtung innerkirchliche Restauration.
Eine domestizierte amerikanische Kirche
Bei meinem ersten Vortrag in Chicago 1963 vor 5000 Zuhörern in McCormick Place kannte die Begeisterung für konziliare Erneuerung und ökumenische Verständigung keine Grenzen. Als Erzbischof beliebt war damals Kardinal ALBERT MEYER , deutscher Abstammung, der zu den Führern der fortschrittlichen Konzilsmehrheit gehörte und dessen Sympathie ich genoss. Aber jetzt (1981) steht an der Spitze der reichen Erzdiözese einer dieser reaktionären Skandalbischöfe, Kardinal JOHN CODY , irischer Herkunft, mit dem viele Priester im Streit liegen und den prominente Katholiken der zweckentfremdeten Verwendung von Kirchengeldern (angeblich für eine Geliebte) beschuldigen. Mein Freund ANDREW GREELEY , schon seit einiger Zeit als Bestseller-Romancier tätig, widmet ihm den Schlüsselroman mit dem genial zweideutigen Titel »The Cardinal Sins«, was sowohl verbal verstanden werden kann (»der Kardinal sündigt«) als auch substantivisch (»die Kardinalsünden«, also Hauptsünden). Immer mehr hat sich unter Codys Regime der reformfeindliche Geist der römischen Restauration ausgebreitet. Der Prozess gegen ihn vor der Chicago Grand Jury findet aber nicht statt, da der Kardinal 1982 einer Herzattacke erliegt.
Unter demselben Titel hätte Andrew Greeley etwas später auch über eines anderen Kardinals Sünden einen »Roman vrai« schreiben können: über den ebenfalls gerichtlich belangten stockkonservativen Erzbischof von Boston, Kardinal BERNARD FRANCIS LAW . Er wird 1973 Nachfolger des beliebten Kardinals RICHARD CUSHING , der mich 1963 persönlich bei meinem ersten Vortrag in den Vereinigten Staaten einem Publikum von 3000 Zuhörern vorgestellt hatte und mein Buch »Strukturen der Kirche« an seinen Klerus verteilen ließ. Law aber wird ebenfalls von der amerikanischen Justiz verfolgt, weil er jahrelang die haarsträubenden Pädophilievergehen von Klerikern vertuscht hat. Deshalb muss er 2002 ins römische Exil gehen. Aber in ein »dolce esilio«, wie die Kurialen sagen, denn er wird sogleich zum Erzpriester der Basilica Santa Maria Maggiore, eine der vier römischen Hauptkirchen (der allerreinsten Jungfrau Maria gewidmet!), befördert und neben anderem zum Mitglied der Bischofs-, Klerus-, Ordens- und Bildungskongregation gemacht. Die heilige römische Kurie kennt kaum Scham, sagt man in Amerika. Immerhin: Kardinal Law ist der einzige amerikanische Bischof, der wegen befürchteten öffentlichen Skandals nicht an der Begegnung von BENEDIKT XVI. mit dem amerikanischen Episkopat im April 2008 in Washington teilnehmen darf. Dafür wird er von Benedikt XVI. sofort nach dessen Rückkehr entschädigt durch des Papstes Teilnahme an Laws feierlichem Rosenkranzgebet in der Basilika, an dem – welch wundersames Zusammentreffen! – auch der zum dritten Mal zum Premierminister gewählte skandalumwitterte SILVIO BERLUSCONI teilnimmt. Von einem ähnlichen gemeinsamen Gebet mit dessen Vorgänger ROMANO PRODI , einem unbedingt integren Katholiken im Geist des Vatikanums II, ist nichts berichtet. Die »unheiligen Allianzen« des Vatikan werden immer wieder sichtbar.
In der restaurativen kirchlichen Situation der Ära Wojtyła ist es nicht erstaunlich, dass man im Bischöflichen Ordinariat der Erzdiözese Chicago über mein Kommen nicht begeistert ist. Die Kirchenzeitung »The Chicago Catholic«
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