Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
sozialistischen von Marx und dem psychoanalytischen von Freud zu stellen und sich schließlich mit Nietzsches Nihilismus zu konfrontieren. Aber davon ausgehend ist dann auch der konstruktive Aufstieg zu reflektieren: statt des Nihilismus das Wagnis eines Ja zur Wirklichkeit, statt des Atheismus ein Ja zu Gott und statt einer unbekannten oder ambivalenten Gottheit ein Ja zum christlichen Gott.
Meine vierstündigen Vorlesungen (Mittwoch und Donnerstag vormittags) sind – ganz anders als in Tübingen – für verhältnismäßig wenige Elite-Studenten bestimmt, die ich in eine neuartige »ökumenische Theologie« einführe. Ich vergleiche zuerst die Paradigmenwechsel in Theologie und Naturwissenschaft (I) und entwickle so die Voraussetzungen für ein neues Paradigma. Weiter entwickle ich dann die beiden Konstanten einer wahrhaftigen, freien und kritischen ökumenischen Theologie, die zugleich katholisch und evangelisch, traditionell und zeitgemäß, christozentrisch und universal ausgerichtet, theoretisch-wissenschaftlich und praktisch-pastoral sein soll (II). Des Weiteren präzisiere ich die beiden Konstanten oder Pole einer solchen Theologie: die Erfahrungswelt von heute als der ständig präsente Horizont und die christliche Botschaft als das bleibende Zentrum (III), was aber heute einen historisch-kritischen Zugang und eine Rückbesinnung auf den Jesus der Geschichte erfordert. Dabei müssen die verschiedenartigen biblischen Zeugnisse ernst genommen und verschiedene Methoden angewendet werden (IV). Von dort her sind dann die Rolle der Tradition und ihre Paradigmenwechsel zu verstehen. Solch eine ökumenische Theologie bedeutet heutzutage eine Herausforderung für protestantischen Biblizismus, aber auch orthodoxen Traditionalismus und katholischen Autoritarismus. Ihre positiven methodischen Leitprinzipien fasse ich in der Schlussvorlesung kurz zusammen (V).
Zu Seminar und Vorlesungen kommen noch drei große öffentliche Vorträge , jeweils am Freitag um 15 Uhr: die Hiram W. Thomas Lectures in der Rockefeller Memorial Chapel. Die Themen: »Wo ich stehe« – »Was ist die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft?« – »Was ist der christliche Glaube?«.
So habe ich ein volles, aber keineswegs überfülltes Programm. Es macht mir jedenfalls Freude, denn ich bin auf alle Themen durch meine Publikationen und entsprechende Übersetzungen gut vorbereitet. In CHRISTOPH STAUDER steht mir ein guter Assistent zur Seite. Da ich auf dem Campus wohne, verliere ich keine Zeit mit Fahrten. Ich habe ein kleines schönes Zimmer im Quadrangle Club, dem Gästehaus der Universität, wo alle Fakultätsmitglieder, die wie die Studenten zu 75 Prozent auf dem Campus »in walking distance« wohnen, auch die Mahlzeiten einnehmen können. Zur Divinity School wie zur Rockefeller Chapel brauche ich nur wenige Schritte zu gehen.
Die Aufnahme durch meine Kollegen und Kolleginnen ist sehr herzlich, seien es die Vertreter der verschiedenen theologischen Disziplinen, seien es die Vertreter der Religionswissenschaft, etwa die Spezialisten des Hinduismus, Buddhismus oder der chinesischen Religionen. Ich werde öfters auch privat eingeladen – abgesehen vom großen Diner bei der Präsidentin der University of Chicago, HANNA H. GREY , Historikerin, mit der ich mich glänzend über die italienische Renaissance unterhalten kann.
Nach allen Seiten kann ich so anregende Gespräche führen, die mir nicht zuletzt für das mir bevorstehende vertiefte Studium der Weltreligionen wichtig sind. Mehrere Namen des Professorenkollegiums der Divinity School sind von mir schon im Zusammenhang des Tübinger Symposions über ein neues Paradigma von Theologie genannt worden: GERALD BRAUER, MARTIN MARTY, STEPHEN TOULMIN … Mir am nächsten steht vom Fach und von der Interessenlage her mein Freund DAVID TRACY , dessen höchst komplexes Buch »The Analogical Imagination« ich eingehend studiere. Sein Assistent ist WERNER JEANROND , ebenfalls ein interessanter Gesprächspartner. Ich mache auch weitere wichtige Fakultätsanlässe mit: ein Faculty Retreat in einem Spiritual Center der Karmeliten über »Religion and Public Life« oder eine dreitägige Konferenz zu Ehren des Prozessphilosophen und Theologen CHARLES HARTSHORNE , der Gott als Teilhabe an der kosmischen Evolution auf der Linie von Alfred North Whitehead verstehen will.
Mich interessiert jedoch noch mehr, was mir der große, universal gebildete Religionswissenschaftler MIRCEA ELIADE zu sagen
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