Erloest
angefangen, als ich noch Praktikantin war – und hier arbeitet meine Freundin Annie.
Annie.
Plötzlich habe ich das überwältigend dringende Bedürfnis, mich zu ihr zu flüchten. Sie kennt Jonathan, und sie kennt mich. Vielleicht weiß sie ja, was ich jetzt tun soll.
»Hey, Grace, was verschafft mir die Ehre?« Annie ist wie immer in sehr stylische Vintage-Klamotten gekleidet und strahlt, als ich an ihrer Bürotür erscheine. Sie wird jedoch sofort wieder ernst, als sie sieht, wie aufgelöst ich bin.
»Kann ich dich sprechen?«, frage ich und spüre, dass meine Unterlippe zittert. Ich möchte vor Annies Kollegen Shadrach Alani nur sehr ungern die Fassung verlieren, aber das gerade war einfach ein Schock zu viel für mich, deshalb weiß ich nicht, wie lange ich mich noch beherrschen kann.
Annie erkennt das zum Glück und reagiert sofort.
»Natürlich«, sagt sie und ist schon aufgestanden, schiebt mich zurück in den Flur. »Komm, wir gehen in die Küche.«
Einen Augenblick später stehen wir in der kleinen Teeküche, so wie wir das früher, als ich hier anfing, so oft getan haben. Der Raum war unsere Zuflucht, wenn wir ungestört reden wollten, und jetzt ist es der perfekte Ort, um endlich meinen Emotionen freien Lauf zu lassen.
»Ich glaube, Jonathan will mich verlassen«, stoße ich abgehakt hervor, und spüre, wie mir die ersten hilflosen Tränen über die Wangen laufen, als ich meine schlimmste Angst laut ausspreche.
Annie reißt die Augen auf. »Was? Wie kommst du denn darauf?«
Ich atme tief durch und wische mir die Tränen von den Wangen. »Ich … habe es gehört. Er hat es zu Yuuto gesagt, gerade eben, oben in seinem Büro.«
»Yuuto ist hier?« Diese Information verwirrt Annie sichtlich. »Ich dachte, der Kerl hätte mit Huntington Ventures nichts mehr zu tun.«
»Das dachte ich auch«, sage ich. »Das ist es ja. Yuuto ist wieder da, Annie. Und ich habe zufällig mitgehört, wie Jonathan zu ihm gesagt hat, dass er einen großen Fehler gemacht hat, den er jetzt korrigieren will.« Unglücklich zucke ich mit den Schultern. »Ich glaube, damit meinte er mich.«
Annie streckt die Arme aus und zieht mich an sich, drückt mich ganz fest, was mir unglaublich guttut.
»Süße, das ist doch kompletter Unsinn! Jonathan liebt dich, und er denkt nicht im Traum dran, dich zu verlassen. Der Mann ist verrückt nach dir!«
Ich löse mich wieder von ihr und schüttele den Kopf.
»Nein, das stimmt nicht. Nicht mehr. Er hat sich verändert, Annie – ich wusste nur nicht, wie ich das alles deuten soll. Aber jetzt, wo Yuuto wieder da ist, ergibt das alles einen Sinn. Wahrscheinlich ist Jonathan das zu eng mit mir. Und spätestens, wenn er erfährt, dass ich …« Ich halte inne, weil ich dieses Thema eigentlich gar nicht anschneiden wollte.
»Dass du was?«, hakt Annie nach und sieht mich auf diese Weise an, die mir sagt, dass sie mich jetzt ohnehin nicht mehr vom Haken lassen wird.
»Dass ich schwanger bin«, komplettiere ich meinen Satz und warte auf ihre Reaktion. Sie hebt die Brauen.
»Aber – das ist doch großartig, oder nicht?«, fragt sie, sichtlich verwundert.
»Nein, ist es nicht. Jedenfalls nicht für Jonathan«, erkläre ich ihr und spüre, wie wieder Tränen in meine Augen schießen. »Er will keine Kinder, Annie. Und jetzt habe ich Angst, dass er es als Anlass nehmen wird, um unsere Beziehung zu beend…«
Annie und ich fahren beide erschrocken herum, als die Tür sich plötzlich öffnet. Mit offenen Mündern starren wir beide auf Jonathan, der im Türrahmen steht.
4
»Annie, würdest du Grace und mich bitte kurz allein lassen«, sagt er mit dieser ruhigen, sehr entschiedenen Stimme, die keinen Widerspruch duldet, und hält dabei meinen Blick fest. Seine blauen Augen funkeln, aber es ist keine Wut, die ich darin sehe. Glaube ich jedenfalls, denn eigentlich bin ich viel zu verwirrt, um überhaupt klar zu denken.
Ich will nicht, dass Annie geht, aber ich kann es nicht verhindern. Sie drückt nur noch kurz meine Hand und lächelt mir aufmunternd zu, dann geht sie an Jonathan vorbei zur Tür und schließt sie hinter sich wieder.
Für einen Moment stehen Jonathan und ich uns in dem kleinen Raum gegenüber, der mir plötzlich viel zu beengt erscheint. Mein Herz klopft wild, und ich fühle, wie mich alles zu ihm hinzieht – so geht es mir immer, und daran wird sich vermutlich auch nie etwas ändern. Doch ich verschränke die Arme vor der Brust und widerstehe dem Drang, zu ihm zu gehen, so
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