Erlösung
vor dem Scheunentor die Steine zu zwei parallelen Spuren gepresst waren, und die wirkten ausgesprochen frisch.
Sorgfältig zog sie die Gardinen wieder zu.
Die Glasscherben ließen sie im Flur liegen, sie zogen nur die Tür hinter sich ins Schloss. Draußen sahen sie sich rasch um. Im Gemüsegarten, auf den Feldern, zwischen den Bäumen, nirgends fiel ihnen etwas Ungewöhnliches auf. Deshalb konzentrierten sie sich gleich auf das Vorhängeschloss am Scheunentor.
Isabel deutete auf die Hacke, die Rachel immer noch über der Schulter trug, und Rachel nickte. Sie brauchte keine fünf Sekunden, um das Schloss aufzubrechen.
Als sie das Tor aufstießen, schnappten beide nach Luft.
Vor ihnen in der Scheune stand der Lieferwagen. Beide erkannten den hellblauen Renault Partner, das Nummernschild stimmte.
Rachel begann leise zu beten. »Lieber Gott, lass bitte meine Kinder nicht tot in diesem Auto liegen. Liebe Muttergottes, ich flehe dich an. Lass sie nicht da drinnen liegen.«
Isabel hatte keine Zweifel. Der Raubvogel war mit seiner Beute davongeflogen. Sie probierte es an der hinteren Tür des Lieferwagens. Er hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht abzuschließen, so sicher fühlte er sich in seinem Versteck.
Dann legte sie die Hand auf die Kühlerhaube. Die war noch warm.
Da ging sie auf den Hof und starrte durch die Bäume zu der Stelle, wo Rachel sich übergeben hatte. Entweder war er dort langgefahren oder zum Wasser. Jedenfalls war er noch nicht lange weg.
Sie waren zu spät gekommen! Wohl um Haaresbreite.
Rachel, die neben ihr stand, begann zu zittern. Die Aufregung der langen Autofahrt, all der Kummer, für den es keine Worte gab, all der Schmerz, der sich in ihrem Gesicht und ihrer Körperhaltung spiegelte, all diese Gemütsbewegungen entluden sich da schlagartig in einem Schrei, der die Tauben vom Dach auffliegen ließ. Am Ende lief ihr der Rotz aus der Nase und die Mundwinkel waren von Spucke weiß.
Der Entführer war nicht da. Und die Kinder waren weg, trotz aller Gebete.
Isabel nickte ihr still zu. Ja, es war entsetzlich.
»Rachel, es tut mir leid, aber ich glaube, ich hab das Auto gesehen, als du dich übergeben hast«, sagte sie behutsam. »Eswar ein Mercedes. So ein schwarzer. Die Sorte, von der es Tausende gibt.«
Lange standen sie ganz still da, während das nachmittägliche Licht schwächer wurde.
Und was nun?
»Du und Joshua, ihr solltet ihm das Geld nicht geben«, sagte Isabel schließlich. »Ihr dürft nicht zulassen, dass er die Bedingungen diktiert. Wir müssen Zeit gewinnen.«
Rachel sah Isabel an wie eine Abtrünnige, wie eine, die auf alles spuckte, an das Rachel glaubte und wofür sie stand. »Zeit gewinnen? Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst, und ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es wissen will.«
Rachel sah auf die Uhr. Sie hatten denselben Gedanken.
Bald schon würde Joshua mit einem Beutel voller Geldscheine in Viborg den Zug besteigen. Damit war für Rachel ihr Versuch, den Entführer zu verfolgen und zu überrumpeln, erledigt. Jetzt gab es nur noch eine Option, und die war simpel: Sie würden das Geld abliefern und im Gegenzug die Kinder in Empfang nehmen. Punktum! Eine Million war zwar eine Menge Geld, aber die würden sie irgendwie verschmerzen. Und Isabel sollte ja nicht versuchen, noch einmal daran zu rütteln. Das strahlte Rachel in aller Deutlichkeit aus.
Isabel seufzte. »Rachel, bitte hör doch mal. Wir haben ihn alle beide kennengelernt. Etwas Furchtbareres als diesen Kerl kann man sich nicht vorstellen. Denk nur daran, wie er uns hinters Licht geführt hat. Wie sternenweit alles, was er gesagt hat, von der Wahrheit entfernt war.« Sie ergriff Rachels Hände. »Er hat sich deinen Glauben und meine kindische Verblendung zunutze gemacht. Er hat unsere verletzlichsten Punkte, unsere innersten Gefühle für sich ausgenutzt. Und wir haben ihm geglaubt. Begreifst du? Wir haben ihm geglaubt und er hat gelogen! Das kannst du nicht leugnen. Weißt du, worauf ich hinauswill?«
Natürlich wusste sie es, sie war ja nicht dumm. Aber Rachelkonnte in diesem Augenblick keinen Zusammenbruch riskieren. Sie konnte ihren blinden Glauben nicht in den Staub werfen, nicht in dieser Situation und nicht so schnell, das sah Isabel. Erst musste sie noch einmal bis in die Tiefe vorstoßen, aus der alle Urinstinkte kamen. Musste hinunter in die Hölle, um frei denken und alle Argumente und Konzepte aus der Welt ihres Glaubens beiseiteschieben zu können. Eine entsetzliche
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