Erlösung
richtete seinen Blick auf Assads Aktensystem an der Wand. »Jeder dieser Fälle steht für ein schreckliches Verbrechen, und der Kummer, den es mit sich gebracht hat, ist mit Sicherheit nicht kleiner als Ihrer.«
Er sah zu Martin Holt, aber der wirkte vollkommen unbeeindruckt. Diese Fälle waren nicht seine Sache, und die Opfer waren nicht seine Brüder und Schwestern. Kurz gesagt: Alles, was außerhalb des Dunstkreises der Zeugen Jehovas lag, war ihm so fremd, dass es für ihn nicht existierte.
»Wir hätten uns jeden anderen dieser Fälle herausgreifen können, ist Ihnen das bewusst? Aber wir haben uns den Fall Ihres Sohnes vorgenommen. Und ich werde Ihnen zeigen, warum.«
Unwillig ging Poul Holts Vater die letzten Meter mit. Wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Schafott.
Im Flur deutete Carl auf die riesige Kopie des Flaschenbriefs. »Deshalb«, sagte er und zog sich ein paar Schritte zurück.
Lange stand Martin Holt dort und las den Brief. Seine Augen glitten so langsam über die Zeilen, dass man mitverfolgen konnte, an welcher Stelle er sich gerade befand. Und als er mit Lesen fertig war, begann er von vorn. Da konnte man beobachten, wie eine stattliche Erscheinung langsam in sich zusammensackte. Ein Mensch, der Prinzipien über alles stellte. Aber auch ein Mensch, der versuchte, seine übrigen Kinder zu schützen, und sei es mit Schweigen und Lügen.
Und nun stand er dort und nahm die letzten Worte seines toten Sohns in sich auf. So unbeholfen sie waren, sie gingen ihm unmittelbar zu Herzen. Plötzlich jedenfalls zuckte er zusammen, trat einen Schritt zurück, hob die Hände und stützte sich an der Wand ab. Sonst wäre er umgefallen. Denn hiererklang der Hilfeschrei seines Sohns so laut wie die Posaunen von Jericho – und er hatte ihm nicht helfen können.
Carl ließ Martin Holt eine Weile dort stehen und still weinen. Schließlich trat der Mann vor und legte vorsichtig eine zitternde Hand auf den Brief seines Sohns. Ganz langsam ließ er die Finger über das Papier gleiten, von Wort zu Wort, so hoch, wie er reichen konnte.
Dann sank sein Kopf zur Seite. Der Schmerz von dreizehn Jahren löste sich.
Als Carl ihn wieder in sein Büro gebracht hatte, bat Martin Holt um ein Glas Wasser.
Danach berichtete er, was er wusste.
36
»Nun sind die Truppen wieder vereint!«, brüllte Yrsa auf dem Korridor, eine Sekunde, ehe sie um ein Haar mit Carl zusammenstieß. Ihre Locken standen in alle Himmelsrichtungen ab. Sie schien sich wirklich beeilt zu haben, wieder nach unten in den Keller zu kommen.
»Sagt, dass ihr mich liebt!«, zwitscherte sie und knallte einen Stapel Luftaufnahmen vor Carl auf den Tisch.
»Hast du das Bootshaus gefunden?«, rief Assad aus seinem Besenschrank auf der anderen Flurseite.
»Nein. Ich hab viele Wassergrundstücke mit Häusern gefunden, aber keins direkt mit Bootshaus. Ich hab die Fotos in der Reihenfolge geordnet, in der ich sie näher anschauen würde, wenn ich ihr wäre. Die Häuser, die ich meine, hab ich eingekringelt.«
Carl nahm den Stapel und zählte ihn durch. Das soll doch der Teufel holen, dachte er, fünfzehn Bögen und kein Bootshaus.
Dann überprüfte er die Daten. Die meisten Fotos stammten vom Juni 2005.
»Hallo?«, sagte er. »Diese Fotos sind alle neun Jahre nach dem Mord an Poul Holt aufgenommen worden, Yrsa. In der Zeit kann so ein Bootshaus doch schon zigmal abgerissen worden sein.«
»Zigmal?« Assads Gesicht war ein großes Fragezeichen.
»Das sagt man so, Assad.« Carl holte tief Luft. »Liegen uns ältere Luftaufnahmen als diese hier vor?«
Yrsa blinzelte ein paarmal. Ob er sie auf den Arm nehmen wolle, sollte das wohl ausdrücken.
»Weißt du was, Herr Vizepolizeikommissar«, sagte sie.»Wenn das Bootshaus in der Zwischenzeit abgerissen worden ist, ist das doch eigentlich ziemlich egal, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Yrsa, ist es nicht. Es könnte doch sein, dass das Haus dem Mörder immer noch gehört, und dann könnte es doch sein, dass wir ihn dort zu fassen kriegen, oder? Also wieder rauf zu Lis, ältere Fotos auftreiben.«
»Von diesen fünfzehn Ausschnitten?« Sie deutete auf den Stapel.
»Nein, Yrsa, von der gesamten Küstenlinie da oben, und zwar vor 1996. Das ist doch wohl nicht so schwer zu kapieren.«
Sie zupfte an ihren Locken. Als sie kehrtmachte und zurücktrottete, war sie lange nicht mehr so übermütig wie vorher.
»Da ist’s ihr schwergefallen, nett zu bleiben«, sagte Assad und wedelte mit der Hand
Weitere Kostenlose Bücher