Erlösung
millimeterweit bewegen ließ, da konnte sie nicht mehr.
Sie schloss die Augen und sah Benjamin vor sich. Größer als jetzt, sprechend, leichtfüßig. Ein hübscher Junge, der auf sie zulief. Jungenhaft und verschmitzt, mit einem Lederball in der Hand. Ach, wie gerne hätte sie das erlebt! Seinen ersten richtigen Satz. Seinen ersten Schultag. Wenn er ihr zum ersten Mal in die Augen sehen und ihr sagen würde, sie sei die beste Mutter der Welt.
Sie war sich nicht sicher, ob sie die Gemütsbewegung als einen Hauch Feuchtigkeit im Augenwinkel spürte. Auf jeden Fall gab es sie. Die Gemütsbewegung wegen Benjamin, ihres Sohnes, der nun ohne sie leben musste.
Benjamin würde leben, zusammen mit – ihm.
Nein!, schrie alles in ihr.
Aber was nützte das? Der Gedanke kehrte immer wieder zurück. Immer nachdrücklicher.
Er
würde mit Benjamin leben. Sollte das ihr letzter Gedanke sein, ehe ihr Herz zu schlagen aufhörte?
Da bewegten sich ihre Finger wieder, und der Fingernagel des Mittelfingers stieß an ein Stückchen Papier unter dem Feuerzeug, und sie kratzte daran, bis der Nagel abbrach. Ihr einziges Werkzeug war ihr genommen. Mit dieser Einsicht kämpfend, döste sie weg.
Unten von der Straße drangen Rufe bis zu ihr vor, gleichzeitig klingelte wieder das Handy in ihrer hinteren Hosentasche. Aber schon deutlich schwächer. Der Akku war bald leer. Sie wusste, wie sich das ankündigte.
Das war Kenneths Stimme. Vielleicht war ihr Mann noch im Haus. Vielleicht öffnete er die Tür. Vielleicht wusste Kenneth, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht …
Ihre Finger bewegten sich ein wenig. Das war das, was sie an Kontakt beitragen konnte.
Aber die Haustür wurde nicht geöffnet. Es gab keinen Streit. Mehr als das schwächer werdende Klingeln des Handys warnicht zu hören. In dem Moment glitt das Feuerzeug ganz langsam aus seinem Lager und streifte ihre Hand.
Anscheinend lag es auf ihrem Daumen. Eine falsche Bewegung und es würde an ihrem Arm entlangrutschen und in der Dunkelheit unter ihr verschwinden.
Sie versuchte, Kenneths Rufen zu überhören. Versuchte zu ignorieren, dass die Vibrationen in der Hosentasche nachließen. Konzentrierte sich ganz auf ihren Zeigefinger, mit dem sie das Feuerzeug in die richtige Lage bringen musste.
Als sie ganz sicher war, dass es so lag, wie es sollte, drehte sie das Handgelenk so weit es nur ging. Das war vielleicht nur ein Zentimeter, aber es gab ihr ein gutes Gefühl. Sie glaubte jetzt an das hier, spürte nicht mehr, dass ihr Ringfinger und der kleine Finger völlig leblos waren.
Sie drückte so fest, wie sie konnte, und hörte das schwache Rauschen, mit dem das Gas ausströmte, als sich die Klappe des Feuerzeugs öffnete.
Aber wie sollte sie jemals die Kraft aufbringen, es zu zünden?
Sie bemühte sich, alles, was ihr noch an Energie geblieben war, in das letzte Daumenglied zu kanalisieren. Ein letzter Willensakt, der ihrer Umwelt zeigen würde, wie sie in ihren letzten Stunden gelebt hatte und wie sie gestorben war.
Dann drückte sie. Nichts sonst in ihr lebte, nur das letzte Daumenglied. Und vor ihren Augen sprang wie eine Sternschnuppe der Funke durchs Dunkel, entzündete das Gas und alles wurde klar.
Sie drehte das Handgelenk diesen einen möglichen Zentimeter in Richtung Karton und ließ die Flamme einen Moment an der Pappe lecken. Dann lockerte sie den Griff und sah der kleinen bläulichen Flamme zu, sah, wie sie gelb und breiter wurde. Ganz langsam wanderte sie wie ein Lichtstreifen nach oben, eine schwarze Rußspur hinter sich zurücklassend. Was eben noch gebrannt hatte, erlosch.
Nach kurzer Zeit erreichte die schwache Flamme den oberen Rand, dann erstarb sie. Zurück blieb lediglich ein Streifen tiefrot schwelender Glut. Dann verschwand auch der.
Sie hörte Kenneth rufen und wusste, es war vorbei.
Die Kraft, das Feuerzeug noch einmal zu bedienen, hatte sie nicht mehr.
Sie schloss die Augen und stellte sich Kenneth vor, wie er unten auf der Straße vor dem Haus stand. Was für hübsche Kinder, Geschwister von Benjamin, hätte er ihr schenken können! Was für ein schönes Leben!
Sie atmete den Geruch von Rauch ein, und neue Bilder glitten ihr durch den Kopf. Die Pfadfinderausflüge zum See. Die Johannisfeuer mit den ein oder zwei Jahre älteren Jungs. Der Duft beim Dorffest in Vitrolles, wo sie und ihr Bruder mit den Eltern Campingurlaub gemacht hatten.
Dann wurde der Geruch stärker.
Sie schlug die Augen auf und sah einen goldenen Schein, unter den
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