Erlösung
Körpers und ich lief automatisch bis zu dem Teil der Ruine, wo ich vor etwa einer Stunde hereingekommen war.
Draußen war im ersten Augenblick niemand zu sehen. Die Sonne war jedoch verschwunden, sie hatte sich wieder hinter einer dichten grauen Wolkendecke zurückziehen müssen. Es waren doch nicht alle tot? Ich ließ meinen Blick umher schweifen. Bis auf das Meer und ein paar Greifvögel in der Luft konnte ich nichts anderes sehen geschweige denn hören. Ich legte Lucas vorsichtig auf dem Boden ab. Für den Fall, dass es doch noch ein paar abtrünnige Vampire geschafft hatten, wollte ich kampfbereit sein. Da Lucas ohnehin außer Gefecht war, würde man ihn garantiert ignorieren. Um die Gegend und die Lage einschätzen zu können, musste ich mir zuerst einen besseren Überblick verschaffen. Ein halb zerfallener Turm auf der westlichen Seite war das Beste, was ich momentan nutzen konnte. Also sprang ich kurzerhand das alte Gemäuer hoch. Von hier oben konnte ich auch den hinteren Teil der zerrütteten Burg sehen. Etwa ein halbes Dutzend dunkler Flecken erstreckten sich auf der anderen Seite. Nicht mehr als ein paar Häufchen Asche? Mehr war nicht von ihnen übrig geblieben. Dem leichten Rauch nach zu urteilen, waren sie ungefähr so lange tot wie Elisabeth und Vincent…
Ich schloss kurz meine Augen und atmete tief ein. Für ein paar Minuten stand ich regungslos da und ich lauschte auf die Komposition der Natur. Das Flügelschlagen der Adler und das Rauschen der ruhiger gewordenen See spielten ihr ganz eigenes Lied der Ruhe und der Harmonie. Ich hätte mich am liebsten von dieser sanften Melodie gefangen genommen, aber da war noch etwas anderes. Es war nur ein Geräusch, doch es passte so gar nicht zu dieser abgestimmten Symphonie. Als ich meinen Blick wieder nach unten richtete, konnte ich eine Gestalt erkennen, die in einiger Entfernung unter einem dürren Baum stand. Da er mir den Rücken zugewandt hatte, konnte Aribo mich nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass er meine Anwesenheit dennoch spürte. Er fing an, mit seinen bloßen Händen ein Loch zu graben. Ich ersparte mir den Abstieg und sprang einfach herunter. Aribo drehte sich erst zu mir um, als ich fast bei ihm war. Sein helles Haar verdeckte sein halbes Gesicht und er sah aus, als wäre er plötzlich um Jahre gealtert, obwohl das natürlich nicht möglich war. Er würde für immer dieses Antlitz behalten, erstarrt bis in alle Ewigkeit.
„Es hat also funktioniert.“ Seine Stimme klang dunkler und kehliger als sonst.
„Elisabeth ist tot, aber sie hat Lucas das Genick gebrochen und Vincent ist…“
Er nickte. „Ja, ich weiß. Vincent hat mir vor zwei Tagen von seiner Vision erzählt. Er hat mir genau gesagt, was geschehen würde. Und wie sehr ich es ihm auch ausreden wollte“, er lachte tonlos, „er hat sich meiner Anordnung widersetzt. Vincent wusste, dass er seinem Schicksal nicht entgehen konnte. Wir hätten andernfalls wohl sonst verloren, da war er sich jedenfalls absolut sicher. Und da er mir niemals Anlass gegeben hat, ihm nicht zu vertrauen, habe ich ihm auch dieses Mal geglaubt. Auch mit der Stunde seines Unterganges hat er leider richtig gelegen.“
Darauf vermochte ich nichts zu sagen. Ich ging in die Knie und begann Aribo zu helfen, irgendwie war mir klar, dass wir ein Grab aushoben.
„Wo ist Lucas?“
„Ich habe ihn am Eingang der Ruine liegen lassen, weil ich nicht wusste, ob noch jemand hier ist. Ich wollte kampfbereit sein…“ Es klang wie eine Rechtfertigung.
„Verstehe. Das ist schon in Ordnung, es ist ungefährlich.“
„Nur wir sind demnach übrig geblieben.“ Es war keine wirkliche Frage meinerseits.
„Marcus hat es nicht geschafft. Crane hat ihn niedergestreckt, bevor Vincent ihn töten konnte.“ Mir fiel auf, dass ich seinen Namen gar nicht gekannt hatte. Obwohl ich jeglichen Verlust von unserer Seite bedauerte, fehlte mir ehrlicherweise bei ihm der persönliche Bezug. Doch Aribo schien sein Tod zu berühren, sofern er zu solchen Empfindungen imstande war.
„Wenn ich die Sonne doch schon eher aus ihrem dunklen Gefängnis befreit hätte, wäre er vielleicht nicht gefallen.“ Aribo stieß einen Seufzer aus. „Mutmaßungen, die zu nichts führen“, ermahnte er sich anscheinend selbst. „Das ist so gar nicht meine Art. Es ist zu trivial, zu menschlich…“ Bisher war er mir immer erhaben und abgeklärt vorgekommen, was man in seiner Position vermutlich auch sein musste. Vielleicht war es von mir aber
Weitere Kostenlose Bücher