Erloschen
Kamerafrau wirklich fast erschossen?
Bei dem Dunst draußen war nicht gleich zu erkennen gewesen, dass die Frau eine Kamera in den Händen hielt und keine Waffe. Und Maggie war sehr aufgebracht und angespannt gewesen. Er hatte sie schon einmal in Aktion gesehen. Sie war einem Bewaffneten gegenübergetreten, und da hatte er erlebt, wie schnell sie in den Überlebens modus umschalten konnte. Es hatte wirklich den Eindruck gemacht, als wäre ein Schalter in ihr umgelegt worden, der sie in Bewegung setzte, entschlossen, das Richtige zu tun, was es auch kostete. In diesem Moment hatte sie auf die Konsequenzen ebenso gepfiffen wie auf das Risiko, das sie einging.
Das war eines der Dinge, die er an seiner Schwester bewunderte. Sie war eine Heldin, so wie ihr Vater ein Held gewesen war. Und sie war viel mutiger als Patrick. Andererseits wusste er, wie leicht man sich von seinen Gefühlen, seinen Ängsten und seiner Fantasie lenken ließ, was letztlich in Panik mündete. Solch eine Panik konnte leicht zu Sinnestäuschungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Doch trotz ihrer untypischen Wut würde Maggie O’Dell niemals einen Schuss abgeben, ohne sich absolut sicher zu sein. Dessen war sich Samantha Ramirez allerdings weniger sicher als Patrick.
»Hören Sie«, begann Ramirez, »Jeffery kann manchmal ein Arsch sein, und die meiste Zeit habe ich ehrlich keinen Schimmer, warum er tut, was er tut.« Patrick fiel auf, dass ihre Hand zitterte.
»Also machen Sie einfach mit?«
»Ja.«
»Haben Sie keinerlei journalistische Integrität?«
Patrick sah, wie Ramirez den Rücken gerade machte und ihre Nasenflügel bebten. Ihre Angst wich blanker Wut.
»Wissen Sie, was ich habe?«, antwortete sie. »Ich habe einen sechsjährigen Sohn, für den ich mir wünsche, dass er später mal nicht Toiletten schrubben oder irgendein Arschloch wie Jeffery Cole bedienen muss. Ich habe eine mexikanische Mutter, die Jeopardy! guckt und zur Jungfrau Maria betet, ihr Englisch möge gut genug werden, dass sie den Einbürgerungstest besteht. Ich habe einen Haufen Rechnungen zu bezahlen und eine Hypothek, die doppelt so hoch ist wie der Wert meines winzigen Hauses. Tut mir leid, aber Ihre ach-so-geschätzte Integrität kann ich mir momentan nicht leisten.«
Die beiden Frauen funkelten einander an. Draußen nahm der Regen wieder zu und trommelte an die Fens terscheiben. Jetzt klang es nach Schneeregen. Die Kaffee maschine fauchte ein letztes Mal gurgelnd, und das Aroma von frischem Kaffee erfüllte die Küche.
Als Patrick sich gerade fragte, ob Maggie die Frau jetzt raus in die nasse Kälte werfen würde, fragte sie: »Nehmen Sie Milch oder Zucker?«
34
Maggie versuchte, dem Hämmern in ihrem Kopf nicht nachzugeben. Sie hatte gehofft, dass es besser würde, wenn sie erst aus dem Regen und der Kälte war. Wurde es nicht.
Sie hatte nicht auf Ramirez geschossen, doch wie knapp war es gewesen?
Ja, sie ließ ihre Wut an der Frau aus und musste sich eingestehen, dass sie eigentlich wütend auf sich selbst war und ein bisschen Angst hatte, der Schmerz in ihrer Schläfe könnte ihr wieder einmal die Sicht verschleiern und ihr Urteilsvermögen trüben.
Der Regen war in Graupelschauer übergegangen. Als Maggie Ramirez für die wenigen verbliebenen Nachtstunden das Sofa anbot, guckte sie zunächst skeptisch, als fürchtete sie, dass es eine Falle sein könnte. Schließlich stimmte sie zu und rief ihre Mutter an, um ihr Bescheid zu sagen, während Patrick fast ein bisschen zu begeistert Wolldecken und ein Kissen holte.
Ramirez telefonierte im Wohnzimmer, und Patrick war noch oben, als Maggie ein Klopfen und Kratzen an der Hintertür hörte. Sie zog ihre Waffe aus dem Hosenbund und ging hinüber. Als sie das Gesicht durch die Scheibe sah, zuckte sie zusammen.
Benjamin Platt war durchnässt, sein Lächeln sorgenvoll. Maggie hatte vergessen, ihn zurückzurufen. Dennoch war es verrückt, den ganzen Weg hierherzukommen, bloß um nach ihr zu sehen. Erst als sie ihm öffnete, bemerkte sie, dass er Jake bei sich hatte.
»O mein Gott, wo hast du ihn gefunden?«
Sie zog beide ins Haus und sah nun, dass Ben auch seinen Hund Digger dabeihatte, den er unter seinem Arm trug. Harvey kam herbeigelaufen, winselte und begrüßte zuerst den großen schwarzen Schäferhund und dann den kleinen weißen Westie.
Maggie warf Jake ein Handtuch über und rubbelte ihm das Fell, solange er es zuließ. Ben trocknete zuerst Digger ab, obwohl er selbst nicht weniger nass
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