Erloschen
Tully neben sich zu haben. Er warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, während sein Kopf nach vorn gerichtet blieb. Seine Lippen waren zusammengepresst, und selbst wenn er etwas sagte, bewegte er sie kaum. Nadiras Antworten auf Tullys Fragen fielen einsilbig aus, und Tully war froh, dass Sam im Raum blieb. Was genau letzte Nacht bei Maggie vorgefallen war, hatte er noch nicht so richtig verstanden, aber es hatte die Haltung der jungen Kamerafrau ihnen gegenüber maßgeblich verändert. Auf einmal wollte sie alles tun, um ihnen zu helfen.
Sie stand hinter Nadira und gab ihm ruhig und gedul dig Anweisungen wie ein Beifahrer von der Rückbank.
»Ich glaube, du musst noch mal ganz zurück auf eine Minute, vierzig Sekunden. Ich hatte eine Probeaufnahme gemacht, dann einen vollen Schwenk über den Bereich.«
Sie meinte den Brandort in den Minuten vor Eintreffen der Feuerwehr. Tully kaufte ihr nach wie vor die Geschichte nicht ab, wieso sie so schnell bei dem Feuer gewesen waren. Sam behauptete, dass Jeffery Cole und sie sich zu einem späten Abendessen verabredet hatten, nach dem sie eine »Lobeshymne« auf die Obdachlosen des Viertels gedreht hatten. Sie hatten mehrere Stunden vor der Martin Luther King Jr. Memorial Library gefilmt, wo die Abendbusse die Obdachlosen abluden, die morgens von hier in die Innenstadt gependelt waren.
Diesen Teil glaubte Tully.
Racine hatte die Sendung erwähnt. Tully hatte es überprüft und herausgefunden, dass der letzte Bus ungefähr um halb sieben ankam. Allerdings mussten Sam und Jeffery Cole danach noch sehr lange weitergefilmt haben, denn auf dem Filmmaterial war zehn nach elf als Zeit angegeben. Das war ein reichlich spätes Abendessen für eine Zweiunddreißigjährige, die einen sechsjährigen Sohn zu Hause hatte.
Und er hatte Samantha Ramirez letzte Nacht noch überprüft. So zerknirscht sie sich auch wegen der vertauschten Filmkassetten gab, da war etwas, das sie ihm verschwieg. Irgendetwas durfte er nicht wissen.
Nadira begann, den Film abzuspielen, und Tully beugte sich vor, die Ellbogen auf seine Knie gestützt, denn sie waren sowieso auf seiner Brusthöhe. Er schob seine Brille höher und lehnte das Kinn auf seine Hände. In dieser Haltung tat ihm die Schulter weh, die nach dem Sturz gestern immer noch empfindlich war.
Bei Sams erstem Kameraschwenk waren nur sehr wenige Leute auf der Straße. Sie hatte sie dabei erwischt, wie sie mit großen Augen aus den Seitengassen und Hauseingängen gekrochen kamen. Die ersten Flammen waren hinter den noch intakten Fenstern zu sehen. Anscheinend fing der Brand eben erst an. Wie konnte es sein, dass die Fernsehleute so früh schon vor Ort gewesen waren?
»Wissen Sie, wer den Brand gemeldet hat?«
»Keine Ahnung.«
»Wie hat Jeffery davon Wind gekriegt?«
»Er hört den Polizeifunk ab. So weiß er immer als Erster von allem. Manchmal glaube ich allerdings auch, dass er hellseherische Kräfte hat.«
»Die hat er. Das macht ihn ja so unheimlich«, sagte Nadira, und er und Sam lachten.
»Wonach suchen Sie?«, fragte Sam Tully. »Nach irgend einem Typen, der sich einen runterholt? Hat das nicht Berkowitz gemacht?« Sie wartete Tullys Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: »Oder dieser Brandermittler in den 1980ern in Kalifornien, bei dem die Brände immer ver lässlich in der Nähe der Tagungen ausbrachen, auf denen er zufällig war.«
»Ernsthaft?«, fragte Nadira. »Mann, Kriminelle sind oft ziemliche Schwachköpfe, was?«
»Wie hieß noch dieser Kerl in Seattle, der über siebzig Brände legte, ehe sein Vater ihn an die Behörden verraten hat?«
»Paul Keller«, antwortete Tully und drehte sich zu ihr um. »Woher wissen Sie so viel über diese Fälle?«
»Soll das ein Witz sein? Haben Sie keinen der Beiträge von Jeffery über diese Brände gesehen? Er hat mehr Hintergrundwissen, als Nadira jemals in die Sendezeit reinquetschen könnte.«
Tully bemerkte, dass Nadira lächelte – sofern man bei dieser leichten Biegung des einen Mundwinkels nach oben von einem Lächeln sprechen konnte.
»Ein bisschen was davon kann er in seiner Gefängnisreportage benutzen«, sagte Nadira. »Mit diesen Brandstiftungen geht er Big Mac inzwischen nämlich mächtig auf den Keks.«
»Big Mac?«, fragte Tully.
»Donald Malcolm, unser Chef«, erklärte Sam. »Er hat das Interesse an den Bränden verloren. Die Story ist nicht groß genug.«
»Nicht? Wie kann das keine große Story sein?«
»Keine Toten.«
Tully blickte auf seine Uhr. Die Autopsie
Weitere Kostenlose Bücher