Erlosung
Grabstein von Frau Apotheker Gerlinde Ottfried Bermann, gestorben 1896 und geborgen in Gott verbarg Ella vor den Blicken der Teilnehmer an Max Jansens Beerdigung.
Sie hatte Annika sofort erkannt. Ihr Herz schlug schnell vor Aufregung. Die groÃe, schlanke Frau mit den kurzen grauen Haaren hatte nur noch wenig Ãhnlichkeit mit der Anni aus ihrer Erinnerung, und sie stand mit dem Rücken zu Ella, aber der gerade Rücken, die entschiedenen Bewegungen, das schnelle Zurückwerfen des Kopfes â das ist sie, sensationell, sie ist es wirklich!
Ihre Freude war so groÃ, dass sie schlucken musste und nicht einmal die Schmerzen im Hals spürte; dass sie kurz sogar vergaÃ, warum sie nicht einfach zu ihr gehen konnte, zu ihrer jahrelang verschollenen Freundin aus einer fast schon nebelhaft fernen, unbeschwerten Vergangenheit.
Sie hatte keine Augen für die anderen Frauen und Männer, die zu der Beisetzung gekommen waren, ein paar Kollegen aus der Charité, ein oder zwei aus der Feuerwehrleitstelle, alle dunkelgrau oder schwarz gekleidet, nur Anni nicht. Anni trug enge, dunkelblaue Jeans mit hauchfeinen Silbernähten, burgunderrote Turnschuhe, eine bunte Missoni-Strickjacke und einen Schal aus grauer Rohseide, bestäubt mit Kupferstickereien.
Aber sie drehte sich nicht um, hielt nicht nach ihr Ausschau. Sie senkte den Kopf wie zum Gebet. Ella, unsichtbar hinter dem Maulbeerbusch, senkte auch den Kopf, dachte an Max, betete für ihn und merkte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Dann, weil sie schon dabei war, betete sie auch für Anni und für sich, schlieÃlich für die ganzen anderen Toten der letzten Tage, besonders für Mado.
Ihr Hals tat noch immer weh, wo Kleist sie gewürgt hatte. Auch ihre Brust schmerzte und die Hand, die er ihr verdreht hatte. Es war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis Dany ihn von ihr heruntergezogen und ihr wieder auf die FüÃe geholfen hatte. Danach hatte er Mados Disc aus dem DVD-Player genommen. »Sie sind alle tot«, hatte er gesagt. Als sie Freyermuths Büro verlassen hatten, konnte sie wieder sehen, dass die Wand nichts anderes war als ein langer, deckenhoher Spiegel. Die Putzkolonne war abgerückt, von den Lampen brannte nur noch die Notbeleuchtung, und nicht ein einziges Telefon klingelte mehr.
DrauÃen im Treppenhaus hatte sie die winzige Kamera am Plafond entdeckt, die auf den Eingang der Kanzlei gerichtet war, und später noch die in der Lobby über dem Fahrstuhl.
Sie sind alle tot , hatte sie gedacht. Und: Wir sind auf den Ãberwachungsbändern.
Sie erinnerte sich nicht mehr genau daran, wie sie ins Hotel zurückgekommen waren, aber sie wusste noch, dass sie sich trotz ihrer Schmerzen, ihrer Angst und der ganzen Wut als Erstes die DVD mit Mados Erklärung für Randolph Freyermuth angeschaut hatten.
Sogar hier sah sie das zarte Gesicht der jungen Frau vor sich, und sie hörte ihre Stimme: »Solange ich meine GroÃmutter kannte, konnte sie nicht aufhören, immer wieder die Geschichte zu erzählen, wie auf einen Schlag ihre ganze Familie ermordet worden war. Mutter, Vater, zwei Brüder und die Dienstboten,
alle bis auf sie, die kleinste Tochter. Sie hieà Annémone, und ich war fünf, als ich zum ersten Mal davon erfuhr. So alt wie sie, als es geschah. Sie fing immer mit denselben Worten an: âºKomm, setzt dich zu mir, meine Kleine, es gibt etwas, das du wissen sollst: Es war die Zeit der groÃen Depression, nach der ersten Weltwirtschaftskrise und dem groÃen Bankencrash vom Oktober 1929.â¹
»Entschuldigen Sie, Doktor Freyermuth, ich fange bloà deshalb mit meiner GroÃmutter an, weil sie es war, die mich auf die Idee gebracht hat, Wirtschaftsgeschichte zu studieren. Sie hat immer gesagt, sie glaubt, es hätte einen Zusammenhang zwischen dem Mord an ihren Eltern und der Wirtschaftskrise gegeben, und dann hat sie gesagt, es wäre ihr nur zu spät klar geworden, sonst hätte sie selbst versucht herauszufinden, worin er bestand. Sie sagte, man glaubt gar nicht, wie viele Verbrechen ganz andere Ursachen hätten, als man gemeinhin dächte, und hinter vielen Schuldigen andere stünden, die noch viel schuldiger seien. Eine Bank könne einen Menschen genauso ermorden wie ein Soldat mit einem Bajonett oder ein Wegelagerer mit einer Pistole, und in den Banken säÃen mehr Verbrecher als in den Gefängnissen.
Manchmal las sie mir dann ein paar Seiten aus
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