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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Erdreich wirkte schmal, kaum zu erkennen zwischen all den großen und kleinen Grabsteinen, den zahllosen Kreuzen aus schiefergrauem, rötlichem und schwarzem Marmor, aus behauenem Stein
und Schmiedeeisen. Mücken tanzten in flirrenden Wolken in der Septemberluft. Flecken von Sonnenschein und Schatten lagen auf den Wegen, und in den Kronen der hohen Bäume rauschte der Wind. Im Laub zeigten sich bereits erste Vorboten des nahenden Herbstes, etwas Rostrot, ein paar gelbe Tupfer, Blattlöcher mit bräunlichen Rändern.
    Dany berührte Ella am Arm. »Ich muss dir etwas sagen.«
    Â»Nicht jetzt«, sagte Ella.
    Â»Es ist wichtig«, sagte Dany.
    Â»Da wird mein bester Freund begraben«, sagte Ella.
    Der Priester am Kopfende der Grube hob eine Hand zum Segen. Der Totengräber trat neben die Kurbel der Winde, bereit, den Sarg in die Erde zu lassen. Annika hob den Kopf und warf einen überraschten Blick in das Grab, als nähme sie es jetzt erst wahr; als hätte sie es nie zuvor gesehen.
    Â»Das ist doch Aziz«, sagte Ella plötzlich überrascht, »der Mann, der da kommt! Das ist ein Hauptkommissar vom LKA!«
    Aus ihrer Deckung beobachtete sie, wie der Hauptkommissar sich auf dem Kiesweg vom Haupttor her der Trauergemeinde mit schnellen, knirschenden Schritten näherte. Wieder war er so elegant gekleidet, als ginge er zu einer Vernissage. Er trug einen weiten, offen schwingenden Mantel und schwarze, spitze Schuhe zu einer taubengrauen Wollhose und einem Rollkragenpullover, die beide eindeutig nach Kaschmir aussahen.
    Aziz ging direkt auf Annika zu. Kurz verdunkelte seine Silhouette die flackernden roten und weißen Flämmchen in dem blumengeschmückten Gewölbe einer vergitterten Urnenhalle. Dann hatte er die Gruppe der Trauergäste erreicht und schien Annika etwas ins Ohr zu flüstern. Als er fertig war, nickte sie knapp, ohne ihm auch nur einen Blick zu schenken. Er trat wieder zurück, beide Hände in den Manteltaschen. Im unruhigen Schatten sacht schwingender Weidenruten blieb er stehen, und nur die Haltung verriet seine Ungeduld.

    Was will er von Anni?, dachte Ella. Unwillkürlich trat sie ebenfalls einen Schritt zurück, dichter an den Ahornstamm hinter ihr, obwohl sie sicher war, dass man sie durch die Hecken, Büsche und Sträucher nicht sehen konnte. Sie schaute sich um. Auf den Pfaden zwischen den dicht stehenden Bäumen, den Brunnen und Bänken waren vereinzelte Friedhofsbesucher unterwegs, junge Frauen in Arbeitskleidung, ältere Männer. Söhne, Töchter, Witwer vielleicht.
    Annika beugte sich vor, zog eine kleine Gartenschaufel aus dem Haufen Erdreich neben der Grube und schüttete etwas davon in die Grube, auf den Sarg. Der Priester sagte ein paar Worte, die Ella nicht verstehen konnte.
    Ella sah, wie Aziz einen neuen Versuch unternahm, Annika beiseitezuziehen. Er berührte sie am Arm, aber diesmal schüttelte sie ihn so heftig ab, dass er eine beschwichtigende Geste machte. Die anderen Trauergäste, die am Rand des Grabes standen, reihten sich nun vor Annika auf, um ihr Beileid auszusprechen.
    Â»Wir müssen los«, sagte Dany. »Sonst verpassen wir das Treffen mit Forell.«
    Â»Ich kann jetzt noch nicht weg«, sagte Ella. »Ich muss erst mit ihr sprechen.«
    Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und für einen Moment wurde es dunkel und kühl, und in diesem, dunklen kühlen Moment verschwand Annika. In der einen Sekunde stand sie noch da unter all den anderen, und in der nächsten war sie nicht mehr zu sehen. Alles, was Ella von ihr hörte, bevor sie verschwand, war ein Schrei, so hell und jäh, als wäre sie vom Blitz getroffen worden.
    Die Gruppe der Kondolierenden geriet in Unruhe, sie drängten sich zusammen und beugten sich vor. Etwas schien zu ihren Füßen zu geschehen, etwas, das Ella nicht sehen konnte hinter den Grabsteinen und Kreuzen, den Büschen, Sträuchern und
Hecken. Sie sah nur, wie Aziz sich in die Gruppe zwängte, sich rücksichtslos mit den Schultern Platz verschaffte. Dann beugte er sich ebenfalls vor, verschwand wie vor ihm Anni. Als er sich nach ein paar Sekunden wieder aufrichtete, hatte er sein Handy am Ohr und ruderte mit der freien Hand in der Luft herum, während er etwas in die Leitung rief.
    Was ist da los? , dachte Ella. Zwei Minuten später erklang das Martinshorn eines Rettungswagens, das schnell lauter wurde. Es kostete Ella alle Kraft,

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