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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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einem Buch vor, einem Roman, die davon handelten, wie die Banken in jener Zeit mit den Menschen umgingen. Manchmal weinte sie dabei, und ich weinte auch. Es waren immer dieselben Seiten, aber sie sagte nie, wie das Buch hieß oder wer es geschrieben hatte, und als ich es später aufzutreiben versuchte, hatte ich nicht den geringsten Anhaltspunkt. Erst als ich anfing, mich mit der großen Depression zu beschäftigen, dem schwarzen Donnerstag in Amerika und seinen Auswirkungen auf Europa, stieß ich rein zufällig auf das alte Buch und stellte fest, dass die Banken noch immer so mit den Menschen umgingen, und es war noch immer zum Heulen.
    Also, meine Großmutter, sie war an diesem Tag bei ihrem
Patenonkel, Monsieur Gilbert Bertrand, Advokat, in Straßburg zu Besuch, dessen Familie sie nach den Morden zu sich nahm. Aus Dankbarkeit nannte sie sich später auch Bertrand, Annémone Bertrand.
    Dass der Hauslehrer, ein Deutscher namens Matthias Steinberg aus dem Nachbardorf, nicht unter den Toten war und dass die Mörder – man ging sofort davon aus, dass es mehr als einer gewesen sein mussten – den Tresor aufgebrochen und ein Vermögen an Goldmünzen und Schmuck geraubt hatten, brachte den ganzen Ort und auch die Gendarmerie dazu, von der ersten Sekunde an nur ihn der Tat zu verdächtigen, ihn und seinen Bruder Oskar, einen Pferdepfleger.
    Das kleine Haus, in dem sie lebten, schien Hals über Kopf verlassen worden zu sein, und ihre Spur führte über die Grenze nach Deutschland, wo sie sich zunächst in Pirmasens verlor. Nur meine Großmutter – die Monsieur Matthias geliebt und von ihm und seinem Bruder Reiten und vielerlei anderes gelernt hatte, darunter den Respekt vor Pferden, mehr noch, vor allem Lebendigen – konnte nicht glauben, dass er zu so einer entsetzlichen Tat fähig gewesen war. Aber die öffentliche Meinung und alle Spuren, die sorgfältig gelegt worden waren, sprachen gegen die beiden Brüder.
    Als sie etwas älter war, fing Großmutter an, Detektiv zu spielen – so wie ich, das habe ich von ihr, meine Mutter war ganz anders! Aber meine Mutter hatte ja auch nicht wie sie mit dem letzten Atemzug aus dem Mund ihres sterbenden Vaters ein paar kaum verständliche Silben vernommen: den Namen seines Mörders. Und sie musste nicht erleben, dass niemand ihr glauben wollte – niemand glaubte einem sechsjährigen Kind, das auf einen Schlag beide Eltern und die beiden großen Brüder verloren hatte. Nicht einmal sein Patenonkel, der Advokat. Nur ich. Ich glaubte ihr, aber sie war ja auch meine Großmutter und da schon eine alte Frau. Doch vor allem wollte ich begreifen, warum
eine ganze Familie ausgerottet werden konnte, eiskalt, nur wegen Geld. Ich wollte die Macht des Geldes begreifen lernen.
    Um allerdings beweisen zu können, was mein Urgroßvater meiner Großmutter mitzuteilen versucht hatte, um die Schuld der wahren Täter ans Tageslicht zu bringen, musste ich erst gerichtsverwertbare Belege für die Unschuld der vermeintlichen Mörder entdecken. Und dazu musste ich herausfinden, was aus ihnen geworden war; ihre Nachfahren aufspüren, wenn es welche gab. Ich habe da weitergemacht, wo meine Großmutter ihre Spur verlor, erst in einem Ort namens Kassel, dann in Potsdam, im Zweiten Weltkrieg. Aber ohne die Hilfe von Professor Forell hätte auch ich sie nie wiedergefunden, und ich wäre auch niemals auf das Journal gestoßen, das Matthias über die Geschichte seiner eigenen Familie geführt hatte.
    Darin habe ich zum ersten Mal den Namen des wahren Mörders entdeckt, den Namen, den mein Urgroßvater meiner Großmutter ins Ohr geflüstert hatte. Kurz danach, nachdem ich in Paris gewesen war, erhielt ich dann Besuch von dem Mann, den Rochefort, Gladstone & Wentworth geschickt hatten. Er stellte mir lauter Fragen, die ich nicht beantworten konnte, Fragen danach, was ich wüsste, aber ich weiß nichts, das habe ich ihm gesagt. Ich weiß nichts, und er hat mir nicht geglaubt, das habe ich ihm angesehen. Deswegen weiß ich, dass seine Fragen Warnungen waren und seine Blicke Drohungen. Er kommt bestimmt wieder.«
    Ein Eichhörnchen flitzte zwischen den Grabsteinen auf eine Pinie zu, kletterte den Stamm hinauf und sprang mit großen Sätzen von Ast zu Ast und weiter zum nächsten Baum, der Rotbuche hinter Annika und ihren Trauergästen.
    Der schwarze Holzsarg neben dem ausgehobenen

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