Erlosung
fragte Ella.
»Angst? Wovor? Weswegen?«
»Weil so viele Menschen getötet worden sind. Wegen etwas, das sich jetzt in Ihrem Besitz befindet.«
Er kniff mehrmals schnell hintereinander die Augen zu. »Mir wird nichts geschehen.«
»Haben wir uns deswegen auf diesem Boot hier verabredet?«, wollte Ella wissen. »Mussten wir deswegen zweimal durch halb Berlin tuckern, bis Sie den Kontakt aufgenommen haben? Weil Ihnen nichts geschehen kann?«
Forell antwortete nicht. Er warf einen Blick zurück zu dem hinter der Flussbiegung verschwindenden Park, als könnte eine der jungen Frauen auf den bunten Badetüchern Mado sein, so wie sie gewesen war; wie er sie gekannt hatte. Eifrig. Dann sagte er: »Fräulein Schneider kam zu mir auf Empfehlung eines Freundes und Kollegen aus Paris. Serge â Professeur Serge Barrault â von der Sorbonne hat sie mir geschickt, damit ich ihr bei ihrer Doktorarbeit helfe. Sie hat einige meiner Kurse besucht, aber eigentlich ging es ihr nur zum Teil um das Studium. Darüber
hinaus hatte sie ein persönliches Anliegen, von dem sie geradezu besessen war, die Suche nach zwei Deutschen â zwei Brüdern, die 1929 aus dem Elsass über Pirmasens nach Preu-Ãen gekommen waren. Ich habe ihr geholfen, die Spur wiederzufinden und die letzte noch lebende Verwandte der Brüder aufzuspüren. Das war der eigentliche Grund, aus dem Barrault ihr meinen Namen genannt hat: die wechselnde Geschichte Elsass-Lothringens von 1871 bis zum Zweiten Weltkrieg ist mein Hobby. Sie wissen schon, mal französisch, mal deutsch, dann wieder französisch â¦Â«
Er schwieg einen Moment. »Madeleine war nicht wie die anderen, und sie hatte hier auch keine Freundinnen â bis auf Sonja Freyermuth, die sie in meinem Seminar über die Auswirkungen des Black Thursday am New Yorker Stock Exchange im Oktober â29 auf die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen kennengelernt hat. Eine Zeit lang haben sie sogar zusammen in Sonjas Wohnung ⦠die, in der sie ja dann â¦Â«
Von weiter vorn, wo die Amerikaner saÃen, drang lautes Gelächter ans Heck. Der Professor runzelte die Stirn. Er räusperte sich. »Haben Sie eben das groÃe silberne Gebäude am Ufer hinter uns gesehen, das mit dem Löwen und der roten Fahne davor? Die Botschaft der Volksrepublik China. Die Chinesen sind die Amerikaner von morgen â¦Â«
Dany nahm seine Sonnenbrille ab. »Woran genau hat sie eigentlich gearbeitet?«, fragte er.
»Sie meinen, weswegen ist sie ermordet worden â sie und alle, die danach sterben mussten?«, fragte Forell und sträubte kurz seine Stacheln. »Das meinen Sie doch. Aber so einfach ist es nicht. Es sind Teile eines Puzzles, die zusammengefügt werden müssen, und eins davon ist das Schicksal ihrer Familie.« Sein Blick fiel auf die Jiffy-Tasche zwischen seinen Oberschenkeln. »Was wissen Sie über den Schwarzen Freitag, Oktober 1929, und die groÃe Depression?«
»Das, was alle wissen, nehme ich an«, sagte Ella.
Forell nickte, aber es war die Art Nicken, die eigentlich ein Seufzen darstellte und mit dem ein Experte gern auf eine durch und durch laienhafte Bemerkung reagiert, ehe er tief aus dem Brunnen seines eigenen reichen Fachwissens zu schöpfen beginnt. »Der schwarze Freitag war eigentlich ein Schwarzer Donnerstag, der 24. Oktober 1929. Ohne erkennbaren Anlass sind an diesem Tag die Aktienkurse an der New Yorker Börse nach Jahren ständig steigender Notierungen und einer Spekulationsblase ohnegleichen innerhalb weniger Stunden so stark eingebrochen, dass viele Anleger am Abend nicht nur alles verloren hatten, sondern auch noch hoch verschuldet waren. Das traf vor allem auf Kleinanleger zu, die in den Jahren des Booms ihre Wertpapiere auf Pump gekauft und dieselben Wertpapiere als Sicherheit eingesetzt hatten. Aufgrund der Zeitverschiebung kamen die Nachrichten von der New Yorker Börse in Europa erst nach Handelsschluss an, sodass auf dieser Seite des Atlantiks die Panik einen Tag später ausbrach, am Freitag. Der Crash setzte sich in Schüben die ganze nächste Woche fort und führte so geradewegs in die gröÃte Weltwirtschaftskrise aller Zeiten, die volle drei Jahre anhielt, bis Mitte 1932: die groÃe Depression.«
»Was hatte das mit Madeleine Schneider und ihrer Familie zu tun?«, fragte Dany.
»Auch in Europa verloren viele Anleger in den
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