Erlosung
Tagen und Wochen nach dem Schwarzen Freitag ihr letztes Hemd«, erklärte Forell. »Genauso schwer erwischte die Krise die Banken, die den Börsenboom mit Krediten finanziert hatten. Die Anleger verkauften zu jedem Preis, um ihre Schulden zu tilgen, was die Kurse weiter in den Keller trieb, sodass manche Aktien innerhalb weniger Tage 99 Prozent ihres Wertes verloren hatten. Am Ende blieben viele Geldinstitute auf den faulen Krediten sitzen und konnten selbst die von anderen Banken geliehenen Gelder nicht mehr zurückzahlen. Bei Stützungskäufen hatten
sie darüber hinaus noch unzählige weiterte Millionen verloren. Wenn Ihnen das Szenario bekannt vorkommt, dann denken Sie vielleicht gerade an die Pleite von Lehman Brothers in den USA vor einigen Jahren oder das Desaster mit der deutschen Hypo Real Estate? Der Oktober 1929 war schlimmer!
Nach Amerika traf die weltweite Katastrophe Deutschland am zweitheftigsten, denn das Land war bis zum Hals verschuldet aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen und litt noch immer unter dem Vertrag von Versailles mit seiner Reparationslast. Das Elsass gehörte damals zwar wieder zu Frankreich, aber zwischen Vogesen und Rhein lebten viele Deutsche, und dort ansässige Firmen und Banken machten Geschäfte mit beiden Ländern.«
Forell kniff die Augen zusammen. Er drehte sich um und schaute zurück zu dem kleinen Park mit den jungen Frauen auf den Badetüchern, während das Boot in einen Bogen tuckerte. Ãber dem Glitzern und Blinken der Wellen sahen sie aus wie Teil einer Fata Morgana, die in der Luft schwebte. Er wird mit dem Alter nicht fertig, dachte Ella; er will sich noch einmal bedeutsam fühlen, als jemand, dem eine Aufgabe übertragen wurde.
»Nun, wie auch immer«, sagte er, nachdem er sich wieder nach vorn gewandt hatte, »die Familie Schneider gehörte zunächst nicht zu den Opfern des Zusammenbruchs. Als grundsolide Kaufleute hatten sie ihr Vermögen mit Holzmühlen, Sägewerken und Weinbergen gemacht und sich nie an irgendeiner Spekulation beteiligt. Sie besaÃen Land, keine Aktien. Was erwirtschaft wurde, floss wieder in das Unternehmen. Nur für einen Bruchteil und als zusätzliche Sicherheit in Zeiten hoher Inflation und wertlosen Papiergeldes hatte Auguste Schneider, Madeleines UrgroÃvater, eine immer noch beträchtliche Menge Gold in Form von Münzen und Schmuck erworben, die er zu Hause in einem Tresor aufbewahrte. Das wurde ihm zum Verhängnis â das und seine Vertrauensseligkeit. Denn seinen nächsten
Nachbarn gehörte eine Bank, Lazare & Fils, und deren Oberhaupt, Christophe Lazare, war ein Spieler.«
Ella spürte, wie ihre Haut zu kribbeln begann; ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Steht diese Familie in irgendeiner Beziehung zu dem Bankier, der in Frankreich verschwunden ist?«
»Raymond Lazare ist der Enkel von Christophe Lazare, und es handelt sich um dieselbe Bank, ja«, bestätigte der Professor. »Eine Bank, die es längst nicht mehr geben würde, hätte sein GroÃvater nicht damals â «
Ella hörte, wie ihr Handy in der Jackentasche summte. Nicht jetzt, verdammt, doch nicht jetzt! Sie zögerte einen Moment, holte es dann aber doch heraus. Sie klappte es auf, und stellte fest, dass der Anruf von einem Apparat der Charité ausging. Anni. Sie sagte: »Entschuldigung, tut mir leid, einen Moment, bitte« und meldete sich.
»Warst du auf der Beerdigung?«, fragte Annika am anderen Ende der Leitung, ihre Stimme ein wenig heiser und unsicher. »Hast du gesehen, was passiert ist?«
»Ja, ich war da.« Ella stand auf und ging an die Reling, wandte sich dem Wasser und den Möwen zu. »Anni, was ist eigentlich mit dir passiert? Was hast du? Wie lange musst du in der Klinik bleiben?«
»Ich muss gar nicht bleiben«, antwortete Anni. »Ich habe einen Hund zu Hause, der schon auf mich wartet. Dieser Polizist, der den Notarzt gerufen hat, war etwas übereifrig.«
Das Boot fuhr langsamer und begann mit dem Wendemanöver; der Fahrtwind lieà nach. »Es sah aus, als wärst du plötzlich vom Erdboden verschluckt worden«, sagte Ella.
Annis Lachen klang rau. »So ähnlich ist es auch, aber dann spuckt er mich regelmäÃig wieder aus. Pass auf, warum ich dich anrufe â was machst du gerade?«
»Das, was ich in letzter Zeit andauernd mache«, Ella war auf
einmal leicht
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