Erlosung
Sie überlegte, ob etwas an Azizâ Stimme oder dem, was er gesagt hatte, merkwürdig gewesen war, ob sie vorsichtig sein sollte, aber ihr fiel nichts ein. Sie ging zurück in den Imbiss, an ihren Tisch, an dem inzwischen ein halbes Dutzend andere Gäste saÃen. Annika hatte die Augen geschlossen. Mit zurückgelehntem Kopf und einem kaum sichtbaren Lächeln schien sie der Musik und den Gesprächen rings umher zu lauschen. Als Ella das Handy vor sie hinlegte, öffnete sie die Augen und holte ein dickes Briefkuvert aus der Jackentasche. »Hier, für dich.«
»Was ist das?«
»Geld.«
»Was für Geld?«
»Ein Darlehen. Du kannst es mir zurückzahlen, wenn du wieder was abheben darfst. Um Geldautomaten solltest du augenblicklich einen groÃen Bogen machen, aber das weiÃt du ja.«
Ella nahm das Kuvert. Es fiel ihr schwer, Annika nicht um den Hals zu fallen. »Danke. Du kriegst es so schnell wie möglich zurück.« Genau in diesem Moment klingelte ihr eigenes Handy, und sie dachte, es wäre Dany und meldete sich.
»Was haben Sie getan?«, schrie eine aufgeregte Stimme ihr ins Ohr. »Was haben Sie getan?«
»Wer spricht da?«
» Warum haben Sie das getan!? «
»Professor Forell?«
»Ich habe Ihnen vertraut!«
»Was getan?«, fragte Ella. »Ich weià nicht, wovon Sie â «
»Mit wem haben Sie gesprochen? Wer wusste, dass wir uns treffen?! «
»Niemand, nur Dany â Monsieur Montheilet und ich â¦Â«
»Sie waren hier!«, rief der Professor. »Jemand war hier, während ich mit Ihnen gesprochen habe.«
Ella wechselte einen Blick mit Annika. »Beruhigen Sie sich«, sagte sie. »Wo ist hier? In Ihrem Büro?« Sie hob die freie Hand,
deutete zur Tür und ging wieder nach drauÃen, drängte sich durch die hungrigen Nachtschwärmer, die vor Murats Theke anstanden.
»Bei mir zu Hause«, antwortete Forell, so schrill, dass die Worte Ella ins Trommelfell schnitten wie das Messer eines Chirurgen. »Jemand war hier und hat meine Wohnung durchsucht. Sie müssen gewusst haben, dass ich nicht da war.«
»Wer?«, fragte Ella.
»Ich weià nicht, wer sie sind«, er ächzte vor Angst, » Die haben sie geschickt. Ihretwegen! Das alles geschieht Ihretwegen. Sie müssen sofort herkommen!«
»Rufen Sie Daniel Montheilet an, seine Nummer ist â «
»Das habe ich schon! Er meldet sich nicht!«
»Was ist mit den Nachbarn? Können Sie nicht zu den â «
»Ich wohne hier ganz allein auf dem Land, der nächste Ort ist zehn Kilometer weit weg!«
»Wer sind die ?«, fragte Ella noch einmal. »Sie müssen mir sagen, vor wem Sie Angst haben â «
»Birnam Forrest«, zischte der Professor, »die schicken sie immer, wenn ihnen jemand gefährlich werden kann. Die Anwälte von Rochefort machen sich nicht selbst die Hände schmutzig, das machen die Schläger von Birnam Forrest â « Er unterbrach sich, als wäre ihm auf einmal ein neuer Gedanke gekommen. »Ich gebe es Ihnen. Ich gebe Ihnen alles, das ganze Material. Sie konnten es nicht finden, weil ich es so gut versteckt habe.« Wieder hielt er den Atem an, nur ein leises Pfeifen entwich seinen Lungen. »Wenn ich es nicht mehr habe â wenn Sie es haben â lassen die mich vielleicht am Leben. Sie müssen kommen und es holen, schnell!«
Was denn? , dachte Ella, aber sie fragte nicht noch einmal danach, denn sie wusste, dass jemand in seiner Verfassung Anweisungen brauchte, keine Fragen. »Gut«, sagte sie. »Ich komme. Sagen Sie mir, wo Sie wohnen.«
»Hier drauÃen«, rief er, »ich wohne in einer umgebauten Kapelle. Sie müssen die E 51 Richtung Hannover-Nürnberg nehmen, an Potsdam vorbei, und dann ist es rechts, kurz vor Rehbrücke, ein unbefestigter Feldweg. Es liegt auf einem Hügel, neben einem alten Friedhof.«
»Gut«, sagte Ella und sah auf ihre Uhr. »Ich verabschiede mich noch von meiner Freundin, und dann nehme ich ein Taxi â «
»Nein, legen Sie nicht auf«, Forells Stimme fiel wieder in den schrillen, panischen Tonfall zurück, »ich will Sie hören, ich will hören, wie Sie ins Taxi steigen und losfahren.«
»Gut, dann reden Sie mit mir.« Zum zweiten Mal kehrte Ella in den überfüllten Döner zurück und schob sich, ohne das Handy vom Ohr zu nehmen, durch
Weitere Kostenlose Bücher